Full text: Ludendorff, meine Kriegserinnerungen 1914-1918

114 Der Sommerfeldzug gegen Rußland 1915 
  
nicht viel. Es war mit Sicherheit anzunehmen, daß der Russe günstigstenfalls 
Widerstand leisten, dann aber ebenso ausweichen würde wie in Galizien. 
In der Theorie vorteilhafter erschien wieder die Operation, an die wir 
nach der Winterschlacht gedacht hatten: Vordringen über die Linie Ossowjetz 
— Grodno, vielleicht auch noch über Lomsha. Ein solcher Vormarsch hätte 
eine entscheidende Wirkung haben können. Er führte auf räumlich kürzestem 
Wege in den Rücken des aus Ostgalizien zwischen Weichsel und Bug zu- 
rückweichenden russischen Heeres. Wir erkundeten die Sumpfniederung zu 
beiden Seiten von Ossowjetz für einen Übergang, aber das Ergebnis war, 
wie vorauszusehen, ein ungünstiges. Die Bodenverhältnisse schlossen 
dort einen übergang aus. Wir mußten mit ernstem Widerstand in der 
taktisch schon an und für sich sehr starken und vermutlich auch stark besetzten 
Linie Össowjetz—Grodno rechnen. Daß wir hier diesen Widerstand und 
die sonstigen Schwierigkeiten überwinden würden, war nicht zu erwarten. 
Ich habe tief bedauert, daß ich einen solchen Angriff auch auf eine Anfrage 
der Obersten Heeresleitung hin nicht befürworten konnte. 
Jede Operation weiter nördlich entfernte sich räumlich von der ent- 
scheidenden Stelle füdöstlich Grodno. Dieser Nachteil mußte dann durch 
Schnelligkeit ausgeglichen werden, zumal wenn der feindliche Rückmarsch 
rascher als bisher vor sich ging. Die feindliche Flanke mußte in diesem Fall 
immer mehr und mehr in Richtung Wilna—Minsk getroffen werden. Ein 
großer deutscher Vormarsch zwischen Grodo—Kowno allein war nicht wir- 
kungsvoll genug, wir liefen in einen Sack. Günstiger erschien es, zunächst 
Kowno von der 10. Armee von Westen her, bei gleichzeitiger Umfassung 
von Norden durch die Rjemen-Armee, zu nehmen. War diese Festung, 
der Eckpfeiler der russischen Njemen-Verteidigung, gefallen, so war 
der Weg auf Wilna und in den Rücken der Hauptkräfte des russischen 
Heeres geöffnet. Es mußte daraufhin einen gewaltigen Sprung nach rück- 
wärts ausführen. Konnten die Njemen= und 10. Armee auch nur geringe 
Verstärkungen rechtzeitig erhalten und mit Kolonnen und Trains reich- 
haltig ausgestattet werden, so war zu hoffen, diesen Sprung derart von 
Norden über Wilna in der Flanke zu fassen, daß der Sommerfeldzug 1915 
mit einer entscheidenden Einbuße des russischen Heeres endigen würde. 
Das war um so eher zu erreichen, je schärfer die Operationen aus Ost- 
galizien in den Raum östlich des Bug gelegt wurden. 
In Ausführung dieses Gedankens wurde die Rjemen-Armee durch die 
41. Inf. Div., 76. Res. Div. und 4. Kav. Div. der 8. Armee verstärkt. 
Der Angriff auf Kowno war dadurch einfacher geworden, daß Mitte 
Mai nach einem gescheiterten Vorstoß der Russen aus den Waldungen west- 
lich Kowno auf Schaki unsere Linien in diesen Wäldern auf Entfernungen 
vorgeschoben waren, die das Instellungbringen unserer schwersten Artillerie
	        
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