Full text: Ludendorff, meine Kriegserinnerungen 1914-1918

120 Der Sommerfeldzug gegen Rußland 1915 
Die Weisungen für die Wegnahme von Nowo Georgiewskbk, die einheit- 
liche Leitung der 8. und 10. Armee, der Angriff auf Kowno, die Verhält- 
nisse in Litauen und Kurland stellten weiterhin hohe Anforderungen 
an meinen Stab und mich. Auch wenn wir die Operationen während des 
Sommerfeldzuges 1915 nicht in der Selbständigkeit leiteten wie die bis- 
herigen Feldzüge, sondern in ihren Grundzügen den Weisungen der Ober- 
sten Heeresleitung folgten, so blieb mir doch eine außerordentliche Arbeits- 
fülle und die Notwendigkeit, neben einer erheblichen Zahl kleiner auch große 
Entschließungen herbei= und durchzuführen. Es kamen Meinungsverschieden- 
heiten mit dem General v. Falkenhayn hinzu, wie sie bei selbständigen 
Charakteren nur zu natürlich sind, die mir aber die besondere Verpflichtung 
auferlegten, von den meinigen abweichende Gedanken der Obersten Heeres- 
leitung wenn möglich mit noch größerer Sorgfalt zur Tat umzusetzen, als 
übereinstimmende oder eigene. 
VI. 
Die Wegnahme von Nowo Georgiewsk berührte die Fortsetzung der 
Operation nicht unmittelbar. Sie war eine Handlung für sich im Rücken 
der nach Osten vordrängenden Armeen. General v. Beseler, der Bezwin- 
ger Antwerpens, und sein überaus tatkräftiger Chef, Oberst v. Sauber- 
zweig, bürgten dafür, daß jeder Gedanke an eine sogenannte Belagerung 
mit allen ihren Umständlichkeiten abgewiesen wurde. Schon eine Ein- 
schließung hätte Nowo Georgiewsk zu Fall gebracht. Die 80 000 Mann 
Kriegsbesatzung der Festung konnten sich nicht lange behaupten. Es ist er- 
staunlich, daß der Großfürst es hierauf ankommen ließ, während später 
Brest-Litowsk und Grodno aufgegeben wurden. Er mußte sich sagen, daß 
die Festung nicht zu halten und der Zustand der Werke wirklich nicht aus- 
reichend war, schwerem Steilfeuer zu widerstehen. 
General v. Beseler beschloß, den Angriff gegen die Nordostforts durch- 
zuführen; die Eisenbahn Mlawa—Zjechanow—Masielsk, die frühzeitig her- 
gestellt war, wies in diese Richtung. Es kam vor allem darauf an, für 
den Anmarsch der mit der Bahn heranzufahrenden Artillerie und für 
deren Munitionsversorgung kurze Landwege zu haben, um zeitraubende 
Bauten von Feld= und Förderbahnen zu vermeiden. Die Stärke der 
Front spielte keine Rolle, zahlreiche schwere Munition glich alles zugunsten 
des Angriffs aus. Die Artillerie wurde sofort vorgeführt, als die Bahn 
bis Nasselsk fertig war. 
Am 9. August war die Einschließung beendet, das Instellungbringen 
der Artillerie und deren Munitionierung begann bald darauf. Mitte 
August konnten die Batterien das Feuer eröffnen. Ihre Wirkung schien 
nicht genügend. Stimmen, die nachher klüger sind als vorher, ließen sich
	        
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