Der Übergang über den Njemen 123
die Eisenbahnbrücke fertig war. Ihre Wiederinbetriebnahme war eine
Lebensfrage für die Armee bei dem erhofften Fortschreiten der Operation.
Die Stadt Kowno selbst war bis auf die Fabrikanlagen erhalten.
Diese waren niedergebrannt, die Bevölkerung geflohen. Ich sah hier, in
welch schwierige Lage die Truppen kamen, wenn sie sich ohne Mitwirkung
der Bewohner unterbringen mußten.
General v. Eichhorn schob unverzüglich nach der Einnahme Kownos
General Litzmann mit seinen Angriffstruppen an der Eisenbahn nach
Wilna vor und zog die zunächststehenden Truppen über den eroberten
Njemenübergang nach. Eleichzeitig setzte er die übrigen Teile der
10. Armee, das XX I. A. K., General v. Hutier, mit dem Hauptdruck auf
Olita und schwächere Truppen durch den Augustower Wald auf Grodno
an; sie handelten in engster Fühlung mit der bereits beinahe in gleicher
Höhe dorthin vorgehenden 8. Armee.
General v Eichhorn beabsichtigte, den Njemenübergang auf der ganzen
Linie zu erzwingen, um so im Rahmen der von uns gedachten Operation
zu wirken. Die Maßnahmen entsprachen durchaus unseren Ansichten.
Blieb auf der einen Seite und namentlich da, wo die Armeen zusammen-
stießen, viel anzuordnen übrig, so wurde nach der anderen Richtung
hin durch selbständige Entschließungen der Armeen der ganze Geschäfts-
gang erleichtert. Es war nur ihre Aufgabe, rechtzeitig mitzuteilen, wie
sie die Lage auffaßten und was sie wollten. Die Armeegrenzen sind
immer besondere Reibungspunkte. Im ÖOsten, namentlich im Stellungs-
kriege, trat es nicht so in Erscheinung wie später im Westen. Die Abschnitts-
grenzen wurden dort bisweilen zu hohen Zäunen, an denen man nur
entlang, aber über die man nicht hinüber sah. Es war eine wichtige Auf-
gabe der höheren Führung, hier auszugleichen und die Abschnittsgrenzen
nicht zu taktisch schwachen Punkten werden zu lassen.
Das Vorrücken der Mitte und des rechten Flügels der 10. Armee
fand unter heftigen Kämpfen statt. Unter dem Druck der Ereignisse bei
Kowno räumte der Russe nach gründlicher Zerstörung der Eisenbahnen
und der Njemenbrücken zunächst das linke Ufer dieses Stromes und wich
bald darauf auch weiter auf Orany aus. Das XX I. A. K. nahm bereits am
26. August Olita. Ende August hatte die 10. Armee den Njemen über-
schritten und war in langsamem Vorgehen gegen die Bahn Grodno—
Wilna. Noch bevor sie die Bahn erreichte, stieß sie auf sehr heftigen
Widerstand, der zunächst nicht zu brechen war. Der Russe fing an, aus
dem östlichen Polen Kräfte nach Norden zu verschieben.
Die taktische Einwirkung des Vorgehens der 10. Armee über den
Njemen in Richtung Grodno war wegen des ungeheuren Waldgebietes
im Nordosten dieser Festung gering. Der Russe war aber doch empfindlich