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alle von der Richtigkeit jenes Aufmarsches überzeugt. An die Neutralität
Belgiens glaubte niemand.
In unserer ungünstigen militärpolitischen Lage, inmitten Europas
umringt von Feinden, mußten wir mit einer großen gegnerischen Über-
legenheit rechnen und uns rüsten, wenn wir uns nicht freiwillig erdrücken
lassen wollten. Wie Rußland zum Kriege trieb und sein Heer dauernd ver-
stärkte, war bekannt. Es wollte Österreich-Ungarn entscheidend schwächen
und Herr des Balkans werden. In Frankreich lebte der Revanchegedanke
in neuer Stärke auf, die alten deutschen Reichslande sollten wieder fran-
zösisch werden. Viele Vorgänge in Frankreich, die Wiedereinführung der
dreijährigen Dienstzeit, ließen an den dort herrschenden Absichten keinen
Zweifel aufkommen. England sah mit Mißbehagen unseren wirtschaft-
lichen Aufschwung, unsere billige Arbeit und eisernen Fleiß. Deutschland
war dabei die stärkste Landmacht Europas. Es hatte zudem eine gute, in
voller Entwicklung befindliche Flotte. Dies ließ England für seine Welt-
beherrschung fürchten. Der Angelsachse fühlte sich in den Gewohnheiten
seines Herrenlebens bedroht. Die englische Regierung vereinigte ihre See-
streitkräfte, deren Schwerpunkt noch vor kurzem im Mittelmeer lag, in der
Nordsee und im Kanal. Die drohende Rede Lloyd Georges vom 21. Juli
1911 warf ein grelles Schlaglicht auf die Absichten Englands, die es sonst
so überaus geschickt verhüllte. Es war mit immer steigender Sicherheit
darauf zu rechnen, daß der Krieg uns bald aufgezwungen und daß es ein
Kampf werden würde, der seinesgleichen auf dieser Welt noch nicht hatte.
Die Unterschätzung der voraussichtlichen gegnerischen Kräfte, wie sie in
Deutschland in nicht militärischen Kreisen angetroffen wurde, war gefährlich.
Noch in der letzten Stunde, im Herbst 1912, als alle Zweifel an den
feindlichen Absichten geschwunden waren und im Heer mit aller Kraft und
eisernem Fleiß in deutscher Pflichttreue gearbeitet wurde, entwarf ich den
Plan zu einer großen Heeresverstärkung, die den Wünschen einsichtsvoller
Volkskreise und klar blickender parlamentarischer Parteien entgegenkam.
Ich vermochte den General v. Moltke zu bewegen, damit an den Reichs-
kanzler heranzutreten. Dieser muß die Lage ebenfalls für überaus
ernst angesehen haben, denn er stimmte sofort dem Antrage zu. Er
veranlaßte den Kriegsminister, eine Vorlage auszuarbeiten, ohne in-
dessen wenigstens nunmehr eine klare und zielbewußte Politik, die die
Psyche der Völker richtig einschätzte, zu treiben. Diese Schlußfolge
hätte sich für ihn ergeben müssen. Die Milliardenvorlage trug ihrer
ganzen Entstehungsgeschichte nach keinen aggressiven Charakter, sie glich
nur das schlimmste Mißverhältnis aus und bezweckte die tatsächliche Durch-
führung der allgemeinen Wehrpflicht. Noch immer gab es Tausende von
Wehrpflichtigen, die nicht dem Vaterlande dienten. Es wurden nicht nur