Die Zersetzung der Volksstimmung 291
Schrift von den neutralen Staaten her, namentlich über unsere Landgren—
zen, aus Holland und der Schweiz, aber auch aus Österreich-Ungarn und im
eigenen Lande selbst, endlich aus der Luft so geschickt und in einem Umfange
angegriffen, daß viele bald nicht mehr zu unterscheiden vermochten, was
feindliche Propaganda, was eigenes Empfinden war. Die Propaganda
wurde um so empfindlicher für uns, als wir den Krieg nicht mit starken,
sondern mit guten Bataillonen zu führen hatten. Der Wert der Masse im
Kriege ist unbestreitbar, ohne Soldaten ist überhaupt kein Kampf möglich.
Aber die Masse allein macht es nicht, sondern der Geist, der sie beseelt; so ist
es im Volksleben, so ist es auf dem Schlachtfelde. Wir haben gegen die
Welt gerungen und konnten es mit gutem Gewissen tun, solange wir seelisch
kriegsfähig waren. Solange hatten wir auch Aussicht auf Erfolg und
brauchten uns, was gleichbedeutend war, nicht dem Vernichtungswillen der
Feinde zu beugen. Mit dem Aufhören unserer seelischen Kriegsfähigkeit
#nderte sich das alles vollständig. Wir kämpften nicht mehr bis zum letzten
Blutstropfen. Viele deutsche Männer wollten nicht mehr für ihr Vater-
land sterben.
Die Zersetzung der Stimmung im Innern, verbunden mit ihrer Wir-
kung auf unsere Kriegsfähigkeit: der Kampf gegen die Heimatfront und
den Geist des Heeres war jedenfalls das hauptsächlichste Mittel, mit dem
die Entente uns besiegen wollte, nachdem sie die Hoffnung auf einen
militärischen Sieg aufgegeben hatte. Hierüber bestand kein Zweifel
in mir.
Ein einsichtsvoller Entente-Politiker hat sich im Frühjahr 1918 in fol-
gender Weise geäußert:
„Es ist heute in London und Paris eine allgemeine und grundlegende
Auffassung unter den führenden Staatsmännern der Entente, daß die
deutsche Armee an der Westfront nie rein militärisch zu besiegen ist. Aber
klar ist es trotzdem jedem, daß die Entente siegen wird, und zwar wegen
der inneren Verhältnisse in Deutschland und den Zentralmächten, die zum
Sturz des Kaisertums führen werden. Spätestens im Herbst dieses Jahres
wird die Revolution in Deutschland ausbrechen. Es ist uns vollständig
klar, daß in Deutschland einflußreiche Kräfte sind, für die es nichts Schlim-
meres gibt als einen militärischen Sieg Ludendorffs.“
Das deckte sich mit den Worten des Landtagsabgeordneten Ströbel,
Schriftleiters des „Vorwärts“, aus dem Jahre 1915:
„Ich bekenne ganz offen, daß ein voller Sieg des Reichs den Inter-
essen der Sozialdemokratie nicht entsprechen würde."
Ich wollte diese Sätze nicht niederschreiben und in die Welt hinaus-
gehen lassen. Wahrheit soll aber Wahrheit bleiben, und diese Worte sind
wahr.
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