Die Einnahme der Stadt 29
wurde immer klarer: die Brigade befand sich allein im Fortgürtel, ab-
geschlossen von der Außenwelt. Wir mußten mit feindlichen Gegenan-
griffen rechnen. Besonders unbequem waren für uns etwa tausend bel-
gische Gefangene. Als erkannt wurde, daß die vor uns liegende Char-
treuse, ein altes Festungswerk, unbesetzt war, sandte ich eine Kompagnie
mit diesen Gefangenen dorthin. Der Kompagniechef muß an meinem
Verstande gezweifelt haben.
Die Nervosität der Truppe steigerte sich bei Einbruch der Dunkelheit.
Ich ging die Fronten ab und ermahnte die Leute zur Ruhe und festen
Haltung. Das Wort „Wir sind morgen in Lüttich“ richtete sie auf.
General v. Emmich mit seinem Stabe fand in einem kleinen Bauern-
hof Unterkunft.
Ich werde die Nacht vom 6./7. August nie vergessen. Es war kalt.
Meine Sachen hatte ich zurückgelassen, Major v. Marcard gab mir seinen
Umhang. Gespannt lauschte ich, ob irgendwo ein Kampf hörbar würde.
Ich hoffte immer noch, daß wenigstens die eine oder andere Brigade die
Fortlinie durchbrochen habe. Alles blieb still, nur alle halbe Stunde fiel
ein Haubitzschuß auf die Stadt. Die Spannung war unerträglich. Gegen
10 Uhr abends gab ich einer Jäger-Kompagnie, Hauptmann Ott, den Be-
fehl, die Maasbrücken in Lüttich zu besetzen, um sie für weiteren Vormarsch
in der Hand und eine Sicherung für die Brigade weiter vorn zu haben.
Der Hauptmann sah mich an — und ging. Die Kompagnie erreichte ohne
Kampf ihr Ziel. Meldungen kamen nicht zurück.
Es wurde Morgen. Ich ging zum General v. Emmich und besprach
mit ihm die Lage. Der Entschluß, einzurücken, stand fest. Nur den Zeit-
punkt wollte sich der General noch vorbehalten. Während ich die Auf-
stellung der Brigade verbesserte und versuchte, die Vormarschstraße der
11. Inf. Brig. zu erreichen, erteilte mir sehr bald darauf der General v. Em-
mich den Befehl zum Einmarsch. Oberst v. Oven hatte die Vorhut. Der Rest
der Brigade mit den Gefangenen folgte in gewissem Abstande, General
v. Emmich mit seinem Stabe und ich mit dem Brigadestabe an dessen
Anfang. Während des Einmarsches ergaben sich viele umherstehende
belgische Soldaten. Oberst v. Oven sollte die Zitadelle besetzen. Meldungen
veranlaßten ihn, dies nicht zu tun, sondern den Weg in Richtung Ft. Lon-
cin, im Nordwesten der Stadt, einzuschlagen und sich an diesem Ausgang
von Lüttich aufzustellen. In der Annahme, daß Oberst v. Oven auf der
Zitadelle sei, fuhr ich mit dem Brigade-Adjutanten in einem belgischen
Kraftwagen, den ich mir nahm, dorthin voraus. Kein deutscher Soldat
war dort, als ich eintraf. Die Zitadelle war noch in feindlicher Hand. Ich
schlug an das verschlossene Tor. Es wurde von innen geöffnet. Die paar
hundert Belgier ergaben sich mir auf meine Aufforderung.