Der angebliche Wechsel in der Auffassung der Obersten Heeresleitung 609
Gebot einfachster Klugheit; je stärker wir militärisch waren, desto besser
konnten wir verhandeln.
Jetzt kam hinzu, daß die Weiterführung des Kampfes Pflicht
wurde, wenn wir uns nicht einem Feinde auf Gnade und Ungnade er-
geben wollten, von dem nichts mehr zu erhoffen war. Ein Handeln konnte
unsere Lage verbessern, jedenfalls nie verschlechtern. Die besten Elemente
des Heeres, ein sehr erheblicher Teil des Volkes warteten darauf.
Das deutsche Volk konnte und wollte zum größten Teil dem Heere noch
seine letzte Kraft geben. Pflicht der Regierung war es, diesen Willen zur
Tat umzusetzen. In diesem Sinne sprach ich mich aus. Ich sagte ähnliches
wie der Reichskanzler am 5. Oktober und stellte auch zur Erwägung, den
Abgeordneten Ebert als Führer der Sozialdemokratie in leitender Stellung
zu verwenden, um durch ihn die Widerstandskraft des Volkes zu heben und
der Kriegführung neue Kräfte zuzuführen. In Übereinstimmung mit
Admiral Scheer hielt ich ein Aufgeben des U-Bootkrieges für ausge-
schlossen. Er fraß dauernd schwer an Englands Kraft. Eine Waffe auf
Geheiß des Feindes aus der Hand zu geben, war ein Schwächebekenntnis,
wie es schlimmer nicht gedacht werden konnte. Es mußte die feindliche Be-
gehrlichkeit ins ungemessene steigern.
Staatssekretär Solf warf mir jetzt Auffassungswechsel vor. Ich war
erstaunt: Die Regierung hatte doch auch noch für den äußersten Fall
kämpfen wollen. Selbst wenn ich jetzt zuversichtlicher gesprochen hätte als
früher, so konnte und mußte der Staatssekretär doch nur über jede günsti-
gere Beurteilung der Lage erfreut sein, da sie für ihn die Verhandlungen
erleichterte. Ich dachte zudem nicht an den Abbruch in diesem Augenblick,
sondern drang auf Klarheit in unserem Denken und endlichen Wollen.
Ich faßte meine Ausführungen nochmals in folgenden Worten zusammen:
„Nach wie vor glaube ich, daß wir die Waffenstillstandsverhandlungen,
wenn es irgendwie geht, erreichen müssen. Aber nur solche Waffenstill-
standsbedingungen dürfen wir annehmen, die eine geregelte Räumung des
Landes gestatten. Hierzu ist eine Frist von mindestens zwei bis drei Mo-
naten nötig. Auch wir dürfen nichts auf uns nehmen, was eine Wiederauf-
nahme der Feindseligkeiten unmöglich macht. Daß dies die Atbsicht des
Feindes ist, muß man nach der Note annehmen. Die Bedingungen sollen
uns außer Gefecht setzen. Bevor wir uns auf Weiteres einlassen, muß der
Feind einmal sagen, was denn eigentlich seine Bedingungen sind. Wir
wollen nicht kurzerhand mit Wilson abbrechen. Wir müssen im Gegenteil
die Frage stellen: 2Sagt doch einmal klar, was wir tun sollen! Wenn Ihr
aber etwas gegen unsere nationale Ehre verlangt, uns kampfunfähig
machen wollt, dann heißt es allerdings neinle
Damit verlasse ich den bisherigen Boden nicht.“
Kriegserinnerungen 1914—18. 39