Schriftwechsel zwischen Kaiser Karl und Seiner Majestät Kaiser Wilhelm 375
allgemeinen Hungersnot den stärksten Verbündeten findet. Ich beschwöre
Dich, diese so schicksalsschwere Seite der Frage nicht zu übersehen und zu be-
denken, daß uns eine rasche Beendigung des Krieges — eventl. unter
schweren Opfern — die Möglichkeit bietet, den sich vorbereitenden Umsturz-
bewegungen mit Erfolg entgegenzutreten. — In treuer Freundschaft bin
ich Dein stets ergebener Karl.
Allergnädigster Herr! Wollen Euer Majestät mir gestatten, mit jener
Offenheit, welche mir vom ersten Tage meiner Ernennung an gestattet war,
meine verantwortl. Meinung über die Situation entwickeln zu dürfen. —
Es ist vollständig klar, daß unsere militärische Kraft ihrem Ende entgegen-
geht. Diesbezüglich erst lange Details zu entwickeln, hieße die Zeit Euer
Majestät mißbrauchen. — Ich verweise bloß auf das zur Neige gehende
Rohmaterial zur Munitionserzeugung, auf das vollständig erschöpfte Men-
schenmaterial und vor allem die dumpfe Verzweiflung, welche sich vor allem
wegen der Unterernährung aller Volksschichten bemächtigt hat und welche
ein weiteres Tragen der Kriegsleiden unmöglich macht. — Wenn ich auch
hoffe, daß es uns gelingen wird, noch die allernächsten Monate durchzu-
halten und eine erfolgreiche Defensive durchzuführen, so bin ich doch voll-
ständig klar darüber, daß eine weitere Winterkampagne vollständig aus-
geschlossen ist, mit anderen Worten: daß im Spätsommer oder Herbst um
jeden Preis Schluß gemacht werden muß.
Die größte Wichtigkeit liegt zweifellos dabei auf dem Moment, die
Friedensverhandlungen in einem Augenblicke zu beginnen, in welchem
unsere ersterbende Kraft den Feinden noch nicht zu vollem Bewußtsein ge-
kommen ist. Treten wir an die Entente heran in einem Augenblick, in
welchem Vorgänge im Innern des Reiches den bevorstehenden Zusammen-
bruch ersichtlich machen, so wird jede Demarche vergeblich sein, und die En-
tente wird auf keine Bedingungen außer auf die, welche die vollständige
Vernichtung der Zentralmächte bedeuten, eingehen. Rechtzeitig also
zu beginnen, ist von kardinaler Wichtigkeit. — Ich kann hier, so peinlich es
mir ist, das Thema nicht beiseite lassen, auf welchem der Nachdruck meiner
ganzen Argumentation liegt. Es ist dies die revolutionäre Gefahr, welche
auf dem Horizont ganz Europas aufsteigt, und welche, von England ge-
stützt, seine neueste Kampfart darstellt. Fünf Monarchen sind in diesem
Kriege entthront worden, und die verblüffende Leichtigkeit, mit welcher jetzt
die stärkste Monarchie der Welt gestürzt worden ist, möge dazu beitragen,
nachdenklich zu stimmen und sich des Satzes zu erinnern: Exempla
trahunt. Man antworte mir nicht, in Deutschland oder Österreich-Ungarn
seien die Verhältnisse anders, man erwidere nicht, daß die festen Wurzeln
des monarchischen Gedankens in Berlin oder Wien ein solches Vorgehen