Reichskanzler Michaelis ũber den „englischen Friedensfühler“ 427
Dieses Schreiben ist der sogenannte englische Friedensfühler. Der
O. H. L. wurde auch vom Reichskanzler Dr. Michaelis näheres nicht mit-
geteilt. Am 11. September wurde ein Kronrat nach Berlin berufen. Der
Generalfeldmarschall und ich wurden zur Teilnahme befohlen.
5.
Der ehemalige Reichskanzler Dr. Michaelis erklärt am 26. Juli 1919:
Die amtlichen Schriftstücke über die Behandlung des Schreibens des Nuntius
Pacelli an mich vom 30. August 1917 sind mir nicht zugänglich. Nach meinen perfön-
lichen Rotizen habe ich zur Behandlung des sogen. „englischen Friedensfühlers“ fol-
gendes zu sagen:
Das Schriftstück wurde mir Anfang September vorgelegt. Ich habe es mit
den Staatssekretären und Ministern besprochen und bin dem Kaiser, der, wenn ich
mich nicht irre, am 9. September von einer Frontreise zurückkehrte, entgegengefahren,
um ihm Vortrag zu halten.
Ich bat den Kaiser um Abhaltung eines Kronrates in Gegenwart der Obersten
Heeres= und Marineleitung. Der Kronrat hat am 11. September in Schloß Bellevue
stattgefunden. Das Ergebnis der Besprechung wurde von dem Kaiser in eigenhändig
unterschriebenem Vermerk folgendermaßen zusammengefaßt:
„Die Annexion Belgiens sei bedenklich, Belgien könne wiederhergestellt
werden. Die flandrische Küste sei zwar sehr wichtig und Zeebrügge dürfe nicht in
englische Hand fallen. Aber die belgische Küste allein sei nicht zu halten. Es
müßte enger wirtschaftlicher Anschluß Belgiens an Deutschland herbeigeführt
werden. Daran habe Belgien selbst das größte Interesse.“
Über die weitere Behandlung des Friedensfühlers wurde von mir mit dem
Staatssekretär v. Kühlmann vereinbart, daß durch eine unbedingt geeignete Perfön-
lichkeit zu sondieren sei, ob auf englischer Seite in der Tat der Wille vorhanden sei,
den bisherigen Standpunkt übertriebener Friedensziele, wie sie unzweifelhaft zu
unserer Kenntnis gekommen waren, aufzugeben und auf einer annehmbaren mittleren
Linie zu verhandeln. Das Schreiben des päpstlichen Nuntius enthielt nach dieser
Richtung hin keine irgendwie überzeugenden Beweise. Die Gefahr lag vor, daß es
sich darum handelte, Deutschland zu entgegenkommender Erklärung zu veranlassen, ohne
den eigenen extravaganten Standpunkt aufzugeben, und daß dadurch die Verhand-
lungsgrenzen zu unseren Ungunsten verschoben würden.
Die Wahl des Vermittlers fiel auf einen hervorragenden, dem Staatssekretär
v. Kühlmann persönlich nahestehenden neutralen Diplomaten"), der ganz besonders
qualifiziert erschien, die erforderliche Sondierung vorzunehmen. Ihm wurde seine
Mission unter Mitteilung der Stellungnahme Deutschlands gemäß obigem Kronrat in
der Weise umschrieben:
„Voraussetzung für Verhandlungen mit England sei das Anerkenntnis:
a) daß unsere Grenzen intakt blieben,
b) daß unsere Kolonien zurückgewährt würden,
c) daß keine Entschädigungen gefordert werden dürfen,
d) daß von einem Wirtschaftskrieg Abstand genommen würde."“
Ich habe in Übereinstimmung mit Exzellenz v. Kühlmann diesen Weg für den
richtigen gehalten, weil nur bei unbedingter Vertraulichkeit die Verfolgung dieser
ersten Friedensfäden möglich schien. Die Verhandlungen über die päpstliche Kurie
boten diese Sicherheit nicht. Schon beim Empfang des Schreibens des Nuntius hatte
*) Es handelte sich um den spanischen Gesandten in Brüssel, Herrn Villalobar.
Der Verfasser.