54 I. Friedensarbeit für die Verstärkung der deutschen Wehrkraft
England hat den Wunsch, sich mit Hilfe seiner Verbündeten von dem
Alpdruck der deutschen Seemacht zu befreien. Deutschland denkt nicht an
eine Vernichtung der englischen Flotte, auch hier will es sich nur verteidigen.
Überall also offensive Ziele auf der einen, defensive auf der anderen Seite.
Das bedeutet für den Kriegsfall eine größere innere Stärke der Triple-En-
tente dem Dreibund gegenüber, denn in dem Streben nach bestimmten
Zielen, also in der Offensive, liegt ebenso wie auf politischem Gebiete auch in
der Kriegführung die stärkere Kampfform.
Man kann das Wesen des Dreibundes, nicht nur in der gegenwärtigen
politischen Spannung, sondern voraussichtlich auch auf weiter hinaus kurz
so charakterisieren: Der politisch am meisten bedrohte Teil der drei Kontra-
henten ist Österreich, der militärisch bedrohteste Deutschland, der politisch und
militärisch am wenigsten interessierte Italien. Kommt es zum Kriege, so
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß seine Hauptlast auf den Schultern
des von drei Seiten her durch seine Gegner umklammerten Deutschland
liegen wird.
Trotzdem werden wir, wenn es gelingt, den casus belli so zu formulie-
ren"), daß die Nation einmütig und begeistert zu den Waffen greift, unter
den augenblicklichen Verhältnissen auch den schweren Aufgaben noch mit
Zuversicht entgegensehen können. Die numerische Stärke unseres Heeres,
die der Waffenfähigkeit des Landes in bezug auf seine waffentaugliche Mann-
schaft seit langem nicht mehr entspricht, genügt aber, wie ich später nach-
weisen werde, nicht, um den Aufgaben der Zukunft gewachsen zu sein.
Wir werden, wenn sich die politische Lage Europas nicht ändert, der
zentralen Stellung Deutschlands entsprechend, immer genötigt sein, nach
mehreren Seiten Front zu machen, und daher uns nach einer Seite mit
schwächeren Kräften defensiv halten müssen, um nach der anderen offensiv
werden zu können. Diese Seite kann immer nur Frankreich sein. Hier ist
eine rasche Entscheidung zu erhoffen, während ein Offensiokrieg nach Ruß-
land hinein ohne absehbares Ende sein würde. Um aber gegen Frankreich
offensiv zu werden, wird es nötig sein, die belgische Neutralität zu ver-
letzen""). Nur bei einem Vorgehen über belgisches Gebiet kann man hoffen,
*) General v. Moltke hatte Sorge, daß Österreich-Ungarn sich zu übereilten
Schritten hinreißen ließe, die uns Verwickelung brächten, ohne daß sie unsere Lebens-
interessen berühren. Zudem war das Zutrauen des Generals v. Moltke zu unserer
diplomatischen Leitung gering. Er zweifelte daran, daß sie im kritischen Augenblick das
Richtige finden würde. Der Verfasser.
* ) Von der „Verletzung der belgischen Neutralität“ wurde im Generalstabe stets
in der Verbindung gesprochen, daß wir nicht abwarten wollten, bis im Fall des uns
aufgedrungenen Kriegs die Abmachungen Belgiens mit der jetzigen Entente offensichtlich
würden. Das vorhandene Material hatte dem General Graf v. Schlieffen genügt, jenen
Durchmarsch durch Belgien im Aufmarsch festzulegen. Der Verfasser.