616 XXIV. Mintärische Schriften
Demnächst wird er den Umfang der Zerstörung der Stellungen und die Wider-
standskraft der Besatzungen durch Patrouillen feststellen wollen. Ihr Vorgehen
ist jederzeit zu erwarten; sie sollen gleichzeitig den Verteidiger zu ständiger Bereitschaft
zwingen.
Zu großem Infanterieangriff mit weit gesteckten Zielen sind größere Be-
reitstellungen nötig, die oft nur bei Nacht stattfinden können. Bleiben die
bereitgestellten Kräfte während des Tages in der Stellung und werden sie erkannt, so
werden sie leicht zerschlagen, ehe sie zum Angriff kommen. Große Infanterieangriffe
finden daher oft frühmorgens nach ganz kurzer, aber um so stärkerer Steigerung des
Artillerie- und Minenfeuers statt.
Häufig legt sich der Gegner zum Großangriff dicht vor den vordersten Postie-
rungen des Verteidigers in dicht aufgeschlossenen Linien nieder und beginnt von hier
aus das wellenweise Vorgehen im Schritt mit enger Fühlung.
Es würde jedoch einen schweren Fehler bedeuten, die Ver-
teidigung allein hierauf festzulegen. Der Verteidiger muß
vielmehr stets auf wechselnde Methoden und Zeiten des In-
fanterieangriffs gefaßt sein.
39. Gegenüber der gewaltigen Feuerkraft des Angriffs kann der Verteidiger von
seiner Infanterie nicht verlangen, daß sie das feindliche Feuer nur duldend über sich
ergehen läßt. Sie muß vielmehr den Erfordernissen des Kampfes entsprechend eine
gewisse Bewegungsfreiheit haben, um nicht schon vor Beginn des In-
fanterieangriffs zermürbt zu werden.
Die Feuergewohnheiten des Feindes sind daher planmäßig zu beob-
achten. In die dadurch erkannten feuerarmen Räume ist die Aufstellung — auch
von Bereitschaften, Reserven, Sicherheitsbesatzungen — von Fall zu Fall zu verlegen.
Meist werden die ausgebauten Stellungen durch das Vorbereitungs-
feuer des Feindes am stärksten zu leiden haben. Die Verluste sind dann bei Auf-
stellung im offenen Gelände oder in Trichterrn, solange die Besetzung
noch nicht erkannt ist, meist erheblich geringer, als wenn die Truppe in den erkannten
Stellungen bleibt. Unter Umständen sind selbst Befehls= und Beobachtungsstellen zu
verlegen. Die Gräben und die ausgebauten Stellen saugen dann das feindliche Feuer
auf und leiten es irre; sie werden in der Hauptsache nur in ruhigeren Zeiten zum
Wohnen, zum Verkehr und zum Schutz gegen die Witterung benutzt.
Wenn so ein Ausweichen im beschränkten Umfange gestattet ist,
so muß doch das Bewußtsein in der Truppe lebendig bleiben, daß als Ergebnis
des Kampfes jede Truppe das ihr anvertraute Gelände rest-
los in der Hand behalten muß, und daß dauernde Räumung
irgendeines Geländestückes nur auf höheren Befehl erfolgen
darf. Sie muß wissen, daß sie zunächst so lange wie möglich ein Eindringen des
Gegners überhaupt zu verhindern und daß sie den etwa vorübergehend eingedrungenen
Gegner zu vernichten oder hinauszuwerfen hat.
40. Namentlich in der vordersten Zone werden bei einsetzendem Artillerieangriff
bald nur noch Trichterstellungen vorhanden sein. In ihnen entstehen Schützennester
von einzelnen Gruppen und Trupps. Der Einfluß der Führer reicht hier nur so weit,
als sie Leute unmittelbar um sich haben. Beherzte Mannschaften werden dann gleich
ihnen die Träger des Kampfes. Durch Ruhe und vorbildliches persönliches Verhalten
werden sie ihre Leute widerstandsfähig und zu schnellem Gegenstoß bereit erhalten.
Patrouillen und Infanteriebeobachter innerhalb der eigenen Stellungen gewinnen
außerordentliche Bedeutung.
In solcher Gefechtslage ist ein Verdichten der Besatzung
der Kampflinie und ein wiederholtes Auffüllen nicht zweck-
mäßig. Die Besatzung erleidet vermehrte und immer neue
Verluste, die nicht zu rechtfertigen und daber für die Moral
der Truppen schädlich sind.