Über den heutigen Stand der Militär-Rechtswissenschalt u. -Gesetzgebung. 101
seinen eigentlichen Berufsgeschäften in Anspruch genommen, un größere
theoretische Werke verfassen zu können.
Die Rechts- und Staatswissenschaft, welche an der juridischen
Facultät gelehrt wird, ist ohne eine Kenntnis des Militärrechts nicht
vollständig. — Es ist gewiss interessant, dass schon unter der Re-
gierung Kaiser Justinians (also vor beiläufig dreizelin Jahrhunderten)
ein byzantinischer Schriftsteller, dessen Namen nicht bekannt ist, ein
Buch schrieb: „Die Kriegswissenschaft als Theil der Staatswissenschaft.“
In unserem Jahrhundert hat Clausewitz, „der Philosoph des Krieges“,
den Satz aufgestellt: „Der Krieg ist die fortgesetzte Staatspolitik, nur
mit veränderten Mitteln“, welchen Satz sein großer Schüler Feld-
marschall Moltke in der Parlamentssitzung des deutschen Reichstages
vom 15. Juni 1868 wiederholt hat. Der berühmte Staatsrechtslehrer
Lorenz von Stein hat in seinem Werke „Die Lehre vom Heerwesen
als Theil der Staatswissenschaften“ nachgewiesen, dass, während die
Kriegswissenschaft eine besondere Wissenschaft bildet, die
Lehre voın Heereswesen (die Lehre von der Organisation, vom Recht
und von der Verwaltung des Heeres) einen integrierenden Theil der
Staatswissenschaft ausmacht.
In der That steht das Heerwesen mit allen Theilen des Staats-
wesens, mit der Verfassung, mit dem Finanzwesen, mit der Volkswirt-
schaft u. s. w. in einem innigen Zusammenhange.
Das Heerwesen wird durch die Staatsverfassung geschaffen
und gibt andererseits derselben ein eigenthüunliches Gepräge. Der mili-
tärisch organisierte Staat der Spartaner lhıatte eine ganz andere Ver-
fassung als der Handelsstaat der kunstsinnigen Athener, welche ihre
Kriege meist mit Söldnerheeren führten. Die Heere der römischen Re-
publik bestanden aus römischen Bürgern, die Heere der Imperatoren
aus Soldtruppen, welche in allen Theilen des großen Reiches geworben
wurden. Die Staatsverfassung der germanischen und romanischen Staaten
war eine andere zur Zeit der ritterlichen Lehnslieere und eine andere
zur Zeit der stehenden Söldnerheere. Die constitutionelle Monarchie
brachte die allgemeine Wehrpflicht hervor.
In jedem Staate machen gegenwärtig die Ausgaben für das Heer
den größten Theil der Staats-Ausgaben aus, und wahrlich, diese Aus-
gaben sind nicht unfruchtbar angewendet, denn ein tüchtiges Heer
bewahrt den Staat gegen alle äußeren und inneren Gefahren, welche,
wenn denselben nicht begegnet wird, dem Staat mehr kosten würden,
als die Auslagen für das eigene Heer ausmachen. Ersparnisse auf diesem
Gebiete haben schon oft den Verlust von Ländern, ja der eigenen
selbständigen Existenz des Staates verursacht. Die Finanzverwaltung
hat also die großen Kosten für das Heer aufzubringen, das Heer-