Die Ehren-Nothwehr. 121
nach Hause zu begeben. Ich hatte einen ziemlich weiten Weg zu machen,
da ich nicht in der Stadt (sit venia verbo), sondern in einem in der
Umgebung der Stadt gelegenen Dorfe wohnte.
Es war eine romantische Winternacht, gerade so, wie sie in den Ro-
manen geschildert wird. Der Mond leuchtete hell, die Sterne funkelten,
die Schatten der Bäume hoben sich gespensterhaft von der Schuee-
decke ab, mit welcher die Erde überzogen war. Nur einzelne Lichter,
welche in den Wohngebäuden in Stadt und Dorf zu sehen waren, kün-
deten dem nächtlichen Wanderer an, dass noch Menschen wachten.
Mir einsamem Wanderer war aber sehr kalt, was den Reiz der
Romantik etwas abschwächte. Ich dachte über das mit meinem Freunde
geführte Gespräch, nämlich über die Ehren-Nothwehr, nach, und hatte
hiezu umsomehr Zeit, als der Weg sehr glatt war und ich laugsam
gehen musste. Nächsten Morgen erwachte ich mit Gedanken über die
Ehren-Nothwehr. Das Thema interessierte mich sosehr, dass ich mir
alle Bücher anschaffte, in welchen ich etwas über Ehren-Nothwehr zu
finden glaubte. Die meiste Belehrung über die Nothwehr habe ich aus
dem gediegenen, mit wahrem Gelehrtenfleiße gearbeiteten Werke: „Das
Recht der Nothwehr“ von K. Levita, 1856, geschöpft. Über die Ehren-
Nothwehr, namentlich mit Bezug auf das Militärrecht, habe ich sehr
wenig gefunden. Die meisten unserer juridischen Schriftsteller pflegen
sich nicht mit militärrechtlichen Fragen zu beschäftigen. Es ist aller-
dings viel leichter, über Gesetze, über welche bereits unzählige Com-
ınentare bestehen, noch einen Commentar zu schreiben und sich gegen-
seitig Complimente zu machen, nach dem Grundsatze: „Facio ut facias“.
Ein anderesmal mehr über den Stand der Wisseuschaft des Militär-
rechtes. Meine dermalige Aufgabe ist, Dich, geehrter Leser, mit dem
Resultate meiner Studien über die Ehren-Nothwehr bekannt zu machen.
Zunächst wollen wir erörtern, ob die Ehren-Nothwehr nach all-
gemein rechtlichen Grundsätzen zulässig ist, und gehen sodann auf die
Bestimmungen des bestehenden Gesetzes über.
Die Nothwehr ist das Recht der Person, sich gegen einen rechlts-
widrigen Angriff, welcher bereits begonnen hat oder unmittelbar bevor-
steht, mit Gewalt zu vertheidigen. Es steht also hier das Recht dem
Unrechte gegenüber.
Um die Frage zu beantworten, ob die Nothwehr auch gegen ver-
bale und symbolische Injurien (die Ehren-Nothwehr) zulässig ist, fragen
wir uns, auf welche Weise vom Standpunkte der Rechtsphilosophie das
Recht der Nothwehr zu begründen ist.
Die Nothwehr ergibt sich unserer Ansicht nach aus der Existenz-
berechtigung des Individuums. Alles, was besteht, hat das Recht auf
Fortbestand, bis es von selbst zerfällt, und daher auch das Recht der