124 Die Ehren-Nothwehr.
recht, der Staat selbst ist es, welcher die Aufgabe des Schutzes der
Rechte der einzelnen Bürger übernimmt. Der Bürger hat, um zu seinem
Rechte zu gelangen, oder durch Bestrafung des Verletzers seiner Rechte
Genugthuung zu erhalten, den Schutz des Staates anzurufen. Wenn
aber auch der Staat den Schutz der Rechte seiner Bürger übernimmt,
so darf der Einzelne nicht mit Gleichmuth der Verletzung seiner Rechte
zusehen und alles vom Staate erwarten, denn: „Jura vigilantibus scripta“.
Die Gesetze sind nur für jene geschrieben, welche auf die Wahrung
ihrer Rechte bedacht sind. Namentlich das Recht der Selbstvertheidigung
des Individuums gegen begonnene oder unmittelbar drohende rechts-
widrige Angriffe kann keine Gesetzgebung aufheben. Ein Gebot des
Staates, alle rechtswidrigen Angriffe zu erdulden und erst dann über
dieselben Klage zu führen, wäre eine Beschränkung der freien Persön-
lichkeit, eine Beschränkung des Rechts zu Gunsten des Unrechts. Kein
Staat ist im Stande, alle rechtswidrigen Angriffe durch seine Organe
zu verhüten, und der durch einen solchen Angriff verursachte Schaden
Ist oft unersetzlich.
Die Nothwehr ist auch von allen Gesetzgebungen anerkannt. Dar-
über jedoch, ob die Notliwehr zum Schutze aller oder nur einzelner
Rechte zulässig ist, herrscht keine Übereinstimmung in den Gesetzen
und große Meinungsverschiedenheit unter den Rechtsgelehrten.
Nach unserer Ansicht soll die Nothwehr, da dieselbe ein natür-
liches, durch die Existenz-Berechtigung des Individuums begründetes
Recht ist, und der Mensch nicht nur einen Anspruch auf das Leben
und die körperliche Unversehrtheit, sondern auch auf’ Achtung aller
erworbenen Rechte hat, zum Schutze aller Rechte, welche durch wider-
rechtliche Angriffe gefälhrdet werden und verloren gehen können, ge-
stattet werden. Alle Rechte sind für die Existenz und weitere Ent-
wicklung des Individuums von Wichtigkeit, weshalb die Nothwehr nicht
auf den Schutz nur einzelner Rechte beschränkt werden soll.
Allgemein anerkannt ist gegenwärtig die Nothwehr zum Schutze
(les Lebens, der körperlichen Unversehrtheit (daher auch gegen Real-
Injurien, d.h. Schläge, in der Absicht zu beleidigen) und zum Schutze
des Eigenthums. Allerdings hat das canonische Recht die Nothwehr
zum Schutze des Eigenthums nicht gestattet, nach dem Grundsatze,
dass man für irdisches Gut nicht Menschenblut vergießen soll. Allein
diese Bestimmung des canonischen Rechts ist ohne Einfluss auf die
Rechtsentwicklung geblieben, und finden wir die Nothwehr zum Schutze
des Eigenthums in allen Gesetzgebungen anerkannt. Es wurde wohl
geltend gemacht, dass man, um eine Sache von nur geringfügigem
Werte zu behalten, keineswegs bis zur Tödtung des Angreifers schreiten
darf. Das Leben eines Menschen stehe in gar keinem Verhältnis zu