Die Kriegsgefangenschaft.
Die völkerrechtliche Literatur ist durchaus nicht arm an Be-
sprechungen des Gegenstandes, welchen wir zum Vorwurf unserer Ab-
handlung gewählt haben.
In allen Lehr- und Handbüchern des Völkerrechts findet man die
Kriegsgefangenschaft behandelt, es fehlt auch nicht an treiflichen Mono-
graphien über diesen Gegenstand (z.B. Otto Eichelmann, „Über die
Kriegsgefangenschaft“, Dorpat 1878).
Nur der Umstand, dass in den bisherigen Arbeiten über die Kriegs-
gefangenschaft auf die einschlägigen Bestimmungen der militärischen
Gesetzgebung keine oder doch nur wenig Rücksicht genommen wurde,
bot die Veranlassung zur nachstehenden Abhandlung.
Grundsätze des Völkerrechts, welche sich im Laufe der Zeiten
eutwickelten, haben für das Verhalten der Staaten im Verkehre unter-
einander, sowohl was den friedlichen als den kriegerischen Verkehr be-
trifft, großen Einfluss. Kein Staat kann allgemein anerkannte Grund-
sätze des Völkerrechts ignorieren, ohne das verdammende Urtheil der
Weltgeschichte auf sich zu ziehen und allgemeine Entrüstung hervor-
zurufen. Der Einfluss des Völkerrechts ist aber, namentlich was die
Kriegführung betrifft, doch meist nur ein mittelbarer, idealer, indem
nämlich anerkannte Grundsätze Jdes Vülkerrechts in militärische Instruc-
tionen, Reglementx und die Militär-Strafgesetze aufgenommen werden.
Das Völkerrecht verhält sich zum militärischen Realismus, zum that-
sächlich geübton IVechte im Kriege, ungefähr so wie die Rechtsphilo-
sophie zum positiven Idecht, wie die Thevrie zur Praxis, Die militärischen
Gesetze und Vorschriften sind es, nach welchen sich die militärischen
Befehlshaber und Behörden verhalten, nach den militärischen Vor-
schriften werden «die Truppen unterrichtet und belehrt. Völkerrechtliche
Darstellungen des Kriegsrechts sollen sich daher nicht bloß in specula-
tiven Erörterungen ergelien und nicht die positive militärische Gesetz-
gebung unbeachtet lassen.
Wir wollen daher in der nachstehenden Untersuchung über die
Kriegsgefangenschaft im Gegensatse zu den bisherigen Erörterungen
auch auf die militärische Gesetzgebung Bedacht nehmen,