56 Die Grenzen des Disciplinar-Strafrechtes.
gehalten werden. Unehrenhafte Handlungen des Einzelnen können leicht,
wenn sie von den Standesgenossen geduldet werden, das Ansehen des
ganzen Standes beeinträchtigen. Dies gilt von allen Ständen, nament-
lich aber vom Militärstand, da unter den demselben Angehörigen eine
enge Kameradschaft besteht, und alle die gleiche Uniform tragen. Aus
diesem Grunde ist bei allen Armeen des heutigen Europa das ehren-
räthliche Verfahren eingeführt.
Es gibt nämlich Handlungen, welche zwar von keinem Strafgesetze
verpönt sind, welche aber dem Ehrgefühle des gebildeten Mannes wider-
streiten. Durch solche Handlungen verwirkt man den Anspruch auf
Ehre in der Gesellschaft nach dem alten Sprichworte: „Wer sich selbst
nicht ehrt, ist der Ehre nicht wert.“
Macht sich ein Officier (Cadet) einer unehrenhaften, durch das
Strafgesetz nicht verpönten Handlung schuldig, so wird derselbe nach
dem Ausspruche der Standesgenossen im ehrenräthlichen Verfahren
entlassen.
Selbstverständlich ist, dass die Entlassung im ehrenräthlichen Ver-
fahren wegen solcher Handlungen, welche nach militärischen Standes-
begriffen unelirenhaft sind, stattfindet. Wenn auch die Grundsätze über
Moral und Ehre zu allen Zeiten und in allen Kreisen der Gesellschaft
dieselben sind, so gibt es doch Modificationen dieser Begriffe, so dass
man sagen kann, jedes Zeitalter und jeder Stand hat seine eigene Moral
und Ehre. Bei den Griechen war die Schauspielkunst und mit dieser
Leute, welche diese Kunst betrieben, geachtet, — der ernste kriegerische
Sinn der Römer verachtete die Schauspieler, und Nero machte sich
mehr durch sein Auftreten als Schauspieler als durch seine Grausam-
keiten verhasst. Die militärische Ehre ist ein höherer Begriff als die
gesellschaftliche Ehre, da nach militärischen Begriffen nicht nur alle
Handlungen, welche die bürgerliche Gesellschaft verachtet, unehrenhaft
sind, sondern es auch Handlungen gibt, welche gegen die besondere
militärische Standesehre verstoßen. Feigheit ist gewiss niemals eine
Tugend, allein Verachtung zieht dieselbe nur im Militärstande, dessen
Hauptaufgabe der Krieg ist, nach sich.
Für das ehrenräthliche Verfahren gilt der Grundsatz: „Nullum
crimen sine lege“, dessen Bedeutung wir oben kennen gelernt haben,
nicht. Die Standesgenossen beurtheilen nach eigener Überzeugung, ob
eine Handlung gegen die Officiersehre verstößt. Die Garantie für die
Gerechtigkeit im ehrenräthlichen Verfahren ist durch den richtigen
militärischen Takt der Standesgenossen und durch die Sorgfältigkeit
der Beweisführung gewährleistet, da die Entlassung, welche gewiss die
härteste Strafe ist, nur wegen erwiesener unehrenhafter Handlungen
stattfindet.