Über den heutigen Stand der Militär- Rechtswissenschaft
und -kesetzgebung.
Unsere Aufgabe ist es, zu untersuchen, was die Rechtswissenschaft
bisher für das Militärrecht geleistet hat, welcher Standpunkt von der-
selben künftighin einzunelimen ist, und wie sich die Gesetzgebung auf
dem Gebiete des Militärrechts zur heutigen Rechtswissenschaft verhält.
Hiebei haben wir uns nicht mit dem Detail der Gesetzgebung eines
Staates zu befassen, sondern auf die der Gesetzgebung der großen
Militärstaaten zugrunde liegenden Principien Bedacht zu nehmen.
Die Wissenschaft des Militärrechts ist ein wichtiger Theil sowohl
der juridischen als der militärischen Wissenschaft. Weder die mili-
tärische noch die juridische Bildung kann ohne die Kenntnis des mili-
tärischen Rechts eine vollständige genannt werden. Jede \issenschaft
ist ein Ganzes (nicht die bloße Summe von Begriffen), dessen einzelne
Theile untereinander in einem organischen Zusammenhange stehen.
Ein Organismus kann aber nicht gesunden, wenn auch nur ein Theil
desselben verkümmert.!) Die Rechtswissenschaft hat bisher das Militär-
recht nur stiefmütterlich behandelt, obwohl dasselbe tief in die mili-
tärischen Lebensverhältnisse eingreift, und daher bei dem Bestehen
der allgemeinen Wehrpflicht für das ganze Volk von großer Wichtig-
keit, ist.
Während die Wissenschaft des Civilrechts seit Savigny, dem Be-
gründer der rechtshistorischen Schule in Deutschland, welchem durch
seine Werke ein unzerstörbares Denkmal im Pantheon der Jurisprudenz
gesetzt ist, und die Wissenschaft des öffentlichen Rechts und des allge-
meinen Strafirechts, namentlich infolge des Aufschwunges der Philo-
sophie durch die unsterblichen Werke des Königsberger Weltweisen,
namhafte Fortschritte gemacht hat, blieb das Militärrecht ein von der
Rechtswissenschaft wenig beachtetes Gebiet. L. v. Stein sagt zwar ın
seinem trefflichen Werke: „Die Lehre vom Heerwesen“, S.,139, dass
wir das, was die Rechtslehre auf diesem Gebiete geleistet hat, be-
!) v. Stein. „Die Lehre vom Heerwesen als Theil der Staats-Wissenschaft“,
1872, S. 142.