Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band IX. Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen. (9)

8 16. Zweite Kammer. Geschichtliche Entwicklung des Wahlrechts. 123 
  
gliedes ab; gegen Prinzen des königlichen Hauses, sowie gegen kirchliche und städtische 
Beamte könnte vorgegangen werden, denn für sie ist die Ausübung der Mitgliedschaft 
ein Stück ihrer Pflichten. Ein Verzicht, der die Mitgliedschaft rechtlich zerstörte, ist 
dagegen nur möglich da, wo sie ihren Grund hat in einem Akte persönlichen 
Vertrauens. Hier ist es eine sittliche Forderung, daß der so zum Mitglied Gewor- 
dene zurücktreten darf, wenn er das richtige Verhältnis nicht mehr fühlt, und wann das 
der Fall ist, entscheidet er allein. Deshalb können freiwillig austreten: die Abgeordneten 
der Stifter und der Universität (Verf.-Urk. § 63 Ziff. 2, 5, 6) die Bevollmächtigten der 
Herrschaftsbesitzer (Verf.-Urk. § 63 Ziff. 3 und 4, mit Verf.-Urk. § 64 Satz 2), die ge- 
wählten und ernannten Rittergutsbesitzer (Verf.-Urk. &X 63 Ziff. 13 und 14) und die vom 
König nach freier Wahl Ernannten (Verf.-Urk. § 63 Ziff. 17).28) 
Rechtlich unwirksam ist der Verzicht, wo die Verfassung selbst die Mitgliedschaft un- 
mittelbar knüpft an den Stand (königliche Prinzen), das Amt, den Besitz. 
§ 16. Zweite Kammer. Geschichtliche Entwicklung des Wahlrechts. Im Gegensatze 
zur ersten Kammer, welche den Zusammenhang mit den altständischen Sonderrechten 
bewahrt und durch den Einfluß der Krone auf ihre Zusammensetzung noch eine neue 
Eigentümlichkeit gewonnen hat, hat die zweite Kammer, wie überall, die Natur einer 
Volksvertretung auch durch die Art zu bekunden, wie sie zusammengesetzt wird: sie ist von 
Anfang an als Wahlkammer gedacht. " 
Im Gegensatze zu der verhältnismäßigen Festigkeit, welche auch die unmodernsten 
Eimichtungen der ersten Kammer bewährt haben, ist die Zusammensetzung der zweiten, 
gerade weil sie von Haus aus bestimmt scheint, den Zeitströmungen entgegenzukommen, 
der Gegenstand unablässiger Kämpfe und Verbesserungsversuche. Das Wahlrecht 
hat keine selbstverständliche, durch eine Art Naturrecht von vorneherein und allgemein 
bestimmte Gestalt. Es ist eine Frage der Macht zwischen den von dem geltenden Rechte 
Begünstigten und den andrängenden Volksschichten, eine Frage des Gemeinsinnes auch 
und der Staatsklugheit, wie weit entgegengekommen werden soll und darf. Nicht immer 
entspricht das so zustande Gebrachte den Berechnungen, die man dabei angestellt hat. 
I. Die Verfassungsurkunde ist das Ergebnis einer Verständigung zwischen der Krone 
und den alten Ständen im Sinne eines Entgegenkommens gegenüber den liberalen Zeit- 
strömungen. Die Stände waren gesonnen, so wenig als möglich von der alten Macht- 
stellung preiszugeben, die Krone war zufrieden, wenn die neue Volksvertretung so wenig 
als möglich Neues und Unberechenbares brachte. Das durch die Verfassung 
geordnete Wahlrecht erklärt sich daraus. 
Die vornehmsten Glieder des alten Landtages waren in der ersten Kammer unter- 
gebracht: Prälaten, Grafen und Herren, ein unverhältnismäßig großer 
Teil der Ritterschaft und von den Städten ungefähr, was dem „Engen 
Ausschuß" entsprach. Es galt also jetzt diesen beiden letzteren Klassen vollends genug zu 
tun, indem man sie im übrigen zu Wählerschaften für die zweite Kammer gestaltete. Nur 
sorderte die Zeit, daß auch die Bauern, die bisher mundtot waren, Berücksichtigung 
fänden; auch sie sollten jetzt ihre Abgeordneten wählen dürfen. Und so ergab sich denn 
28) Opitz, Staats-R. II S. 38 u. Note 10, schränkt das Recht des Austrittes Tsehrler- 
heblich weiter ein. Insbesondere versagt er es auch den Bevollmächtigten der Herrschaftsbesitzer. 
Aber was soll werden, wenn die Leute nicht mehr wollen?
	        
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