g 16. Zweite Kammer. Geschichtliche Entwicklung des Wahlrechts. 127
in der Sitzung vom 10. Dezember 1895 zu verhandeln hatte, brachte die Sache in Fluß.
Er verlangte nicht viel Neues: „allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht mit geheimer
Abstimmung für alle Staatsangehörigen vom 21. Lebensjahre an“ — statt vom 25. Die
große Mehrheit der Kammer antwortete darauf durch den Beschluß auf Übergang zur
Tagesordnung in der Erwägung, „daß das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahl-
recht den Verhältnissen und Interessen des Landes nicht entspricht, daß diesen Interessen
eine Anderung des Wahlrechts nur dient in der Richtung, daß das Wahlsystem auf dem
Prinzip des Verhältnisses der Leistungen der einzelnen Staatsbürger an direkten Staats-
steuern aufgebaut wird“. Als Vorbild diente das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht.
Die Regierung erklärte sich sofort bereit, eine entsprechende Vorlage zu machen.)
So entstand das Gesetz, die Wahlen für die zweite Kammer der Ständeversammlung
betr. v. 28. März 1896, welches den neuen Wahlmodus einführt. Zur besseren Anpassung
an die inzwischen erschienenen reichsgesetzlichen Bestimmungen in straf= und bürgerlich-
rechtlicher Hinsicht wurden auch die Gründe des Ausschlusses vom Wahlrecht neu geregelt
durch das Gesetz v. 27. März 1896, „eine Abänderung von 5#2 des Gesetzes v. 3. Dezember
1868, die Wahlen für den Landtag betreffend“. 10) Abgesehen von diesen beiden Ande-
rungen ist also das Wahlges. v. 1868 in Geltung geblieben. Vor allem ist beibehalten die
Zahl der Abgeordneten und ihre ungleiche Verteilung auf städtische und ländliche Wahl-
kreise. 11)
Die Wahl ist nach dem Ges. v. 28. März 1896 wieder eine indirekte geworden.
Behufs Vornahme der Urwahlen werden die Abgeordneten-Wahlkreise in Wahlbezirke
eingeteilt. Auf je volle 500 Seelen kommt ein zu wählender Wahlmann. Orte unter
1500 Seelen sind mit anderen zusammenzulegen, damit der Wahlbezirk mindestens diese
Zahl erreiche. Orte über 3499 Seelen müssen in mehrere Wahlbezirke geteilt werden. Es
stellt also jeder Wahlbezirk mindestens drei und höchstens sechs Wahlmänner.
Nun werden nach dem Muster des preußischen Landtagswahlrechts die Wähler des
Wahlbezirkes in drei Abteilungen eingeordnet: die Höchstbesteuerten, welche
von der Gesamtsteuersumme des Wahlbezirks zusammen ein Dritteil entrichten, bilden
die erste, die darauf folgenden Steuerzahler bis zur Deckung des zweiten Dritteils die zweite
Abteilung; alle übrigen Wähler machen die dritte Abteilung aus. Jede Abteilung wählt
gesondert den dritten Teil der auf den Bezirk fallenden Wahlmänner, also einen oder zwei.
Sind 4 zu wählen, so gehört der Überschießende der zweiten Abteilung, sind 5 zu wählen,
so teilen sich die beiden anderen in die überschießenden Zwei. 12)
9) Landt. Mitt. II. Kammer 1895/96 Bd. 1 S. 156 ff.
10) So lautet die Überschrift im Ges.= u. Verord.-Bl. S. 43; das erforderliche zweite „be-
treffend“ hat man aus einleuchtenden Schönheitsrücksichten weggelassen. Die beiden Gesetzes-
entwürfe sind gleichzeitig und mit einem königlichen Dekrete vorgelegt worden; deshalb wird
das Ges. vom 27. März als das A-Gesetz und das vom 28. März als das B-Gesetz bezeichnet.
I11) Ungleich in dem Sinne, das die städtischen Wahlkreise viel volkreicher sind als die länd-
lichen. Das war schon nach dem Gesetze von 1868 so; seitdem hat sich diese Unstimmigkeit durch
das rasche Anwachsen der größeren Städte noch bedeutend vergrößert. Man hat berechnet, daß
der dem ländlichen Wähler zuerkannte Machteinfluß auf die Zusammensetzung der zweiten Kammer
gegen viermal so groß ist, wie der des städtischen.
12) Die entscheidenden Is 8 u. 10 des Ges. vom 28. März 1896 entsprechen den §5 10 u. 12
der Preußischen Verord. vom 30. Mai 1899 über die Ausführung der Wahl der Abgeordneten
zur zweiten Kammer. Bei der überaus kurzen Zeit, in welcher damals der Gesetzentwurf von
der Regierung fertig gestellt wurde, war das Bestreben, sich an Erprobtes anzulehnen, sehr
gerechtfertigt.