216 Vierter Abschnitt: Zusammenwirken von Regierung und Volksvertretung. 8 26.
Beschwerderechts nach Verf.-Urk. &. 110 (vgl. oben 8 18, II Nr. 5). Hier kommt
nun noch eine besonders gestaltete Art solchen Beschwerderechts an den König hinzu, das
zugleich ein Rechtsverfahren zum Schutze der Verfassung bedeutet; es handelt sich um
die unten II Nr. 1 zu erörternde Verfassungsbeschwerde.
Die anzurufende Stelle kann der Staatsgerichtshof sein; das ist der Fall des wich-
p tigsten Rechtsverfahrens, das hier in Betracht kommt, und das man ganz besonders meint,
wenn man von Ministerverantwortlichkeit spricht: der Fall der Ministeranklage,
die ebenfalls zugleich zur Gewähr der Verfassung zu dienen bestimmt ist und daher hier
unter II Nr. 2 zur Erörterung kommt.
2. Die Stände haben dem Ministerium gegenüber keine eigene Gewalt; deshalb rufen
sie in der Verfassungsbeschwerde den König an, dem eine solche zusteht. Dem König
aber wird es nicht immer leicht sein, die Sache unbefangen zu würdigen; geht es doch
gegen die Männer seines Vertrauens und seine oberste Gehilfenschaft, möglicherweise
sogar wegen eines von ihm selbst vollzogenen Staatsaktes, für welchen der Minister nur
in Anspruch genommen wird, weil er die Gegenzeichnung dazu geleistet hat. Es wird
deshalb als eine Verstärkung des Rechtes der Stände angesehen werden müssen, wenn
ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Anträge gegen den Minister bei einer unpar-
teiischen Behörde anzubringen, die eigens zu diesem Zwecke ausgerüstet wird
mit Gewalt über diesen, um die erforderlichen Maßregeln zu verhängen. Das gleiche
Bedürfnis wird sich geltend machen, wenn es darauf ankommt, eine unparteiische Ent-
scheidung zu erhalten über einen Meinungsgegensatz, der zwischen den Ständen und der
Regierung entstanden ist wegen Auslegung dieses oder jenes Punktes der Verfassungs-
urkunde. Als solche unparteiische Behörde gewährt Verf.-Urk. § 142 f. den Staats-
gerichtshof. Ministeranklage und Verfahren zur Entscheidung streitiger Verfassungs-
auslegung haben gemeinsam, daß sie nicht an den König, sondern an diesen Staatsgerichts-
hof gehen.)
Der Staatsgerichtshof wird, seinem Zwecke entsprechend, gebildet nach Art eines
Schiedsgerichts, in welchem jede Partei gleichmäßig vertreten ist. 5) Er besteht aus zwölf
Richtern, von welchen die eine Hälfte der König ernennt, die andere die Volksvertretung,
und zwar hier wieder jede der beiden Kammern die Hälfte, also drei. Der König soll
seine sechs Richter aus Mitgliedern der „höheren Gerichte“ wählen; darunter sind jetzt
Mitglieder des Oberlandesgerichts und Landgerichtspräsidenten zu verstehen..) Die
Stände wählen ihre sechs Richter außerhalb der Mitte der Ständeversammlung und min-
destens zwei davon müssen „Rechtsgelehrte“ sein, welche Eigenschaft durch das bestandene
Assessorexamen genügend bekundet wird. Zu diesen Richtern kommt dann noch ein Präsi-
dent des Staatsgerichtshofes, welchen der König ernennt, und zwar unter den nämlichen
Bedingungen wie seine sechs Richter.
4) Die Bestimmungen der Verf.-Urk. & 142ff. über die Bildung des Staatsgerichtshofes
sind fast wörtlich entmnommen der Württemb. Verf.-Urk. § 195ff.
5) Opitz, Staats-R. II S. 246, bringt diesen Gedanken nicht ganz richtig zum Ausdruck,
wenn er den Unterschied des Staatsgerichtshofes von den übrigen Behörden darin sucht, daß diese
„Organe des Königs“ sind, der Staatsgerichtshof aber „ein Organ lediglich des abstrakt über König
und Ständen gedachten Staates“. Mir scheint es schon sehr zweifelhaft, ob bei dem ganzen viel
herumgehetzten Organbegriff etwas Greifbares zu finden ist; Organ des abstrakten Staates wäre
aber die völlige Blutleere.
6) Ges. zur Ausf. des G. V. G. vom 1. März 1879 F 11.