Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band IX. Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen. (9)

8 26. Rechtsverfahren zur Gewähr der Verfassung. 217 
  
Die Mitglieder des Staatsgerichtshofes werden jeweils am Schlusse jedes ordentlichen 
Landtages für die ganze Dauer der bevorstehenden Landtagsperiode ernannt (vgl. oben 
18, 1 Nr. 1); jede Kammer wählt für die gleiche Dauer zwei Stellvertreter. Die so 
Bestellten sind während dieser Zeit unabsetzbar. Die von den Ständen Gewählten ver- 
lieren ihre Stellung durch Annahme eines Staatsamtes, können aber sofort wieder ge- 
wählt werden.) 
Auf diese Weise ist der Staatsgerichtshof immer im voraus besetzt und bereit, in Tätig- 
keit zu treten, wenn im Laufe der Periode ein Fall vorkommen sollte, wo man ihn bräuchte. 
Geschieht das, so wird er von seinem Präsidenten einberufen. Der Präsident ist verpflichtet 
das zu tun, wenn entweder der König unter Gegenzeichnung des Justizministers es an- 
ordnet, oder die Präsidenten beider Kammern durch gemeinsames Schreiben es verlangen. 
Vor jeder Entscheidung zur Sache bestellt der Gerichtshof zwei Referenten; der Korre- 
ferent ist immer aus der entgegengesetzten Partei zu nehmen wie der erste Referent. Bei 
der Entscheidung selbst müssen die beiderseits gewählten Richter in gleicher Zahl mit- 
wirken; fehlt einer auf der einen Seite, so wird der zuletzt ernannte auf der anderen Seite 
gestrichen. Was das Stimmrecht des vom König ernannten Präsidenten anlangt, so ver- 
halten sich hier Ministeranklage und Verfassungsauslegung verschieden; vgl. unten II, 
Nr. 2 und Nr. 3. 
II. Die drei Rechtsverfahren zur Gewähr der Verfassung entwickeln sich nun nach 
Voraussetzung, Form und Wirkung wie folgt. 
1. Die Verfassungsbeschwerde (Verf.-Urk. § 140).8) Das Verfahren setzt 
voraus eine behauptete Verfassungsverletzung. Die Verfassungsurkunde mit 
Einschluß der nachträglich dazu ergangenen Anderungen und Zusätze bildet den zu schützen- 
den Gegenstand.) Die Verletzung kann begangen sein durch Nicht-Beobachtung, wo solche 
hätte stattfinden müssen, oder durch mißbräuchliche, dem wahren Sinne der Bestimmungen 
widersprechende Anwendung. Die Verletzung kann vorgekommen sein bei den Ministern 
selbst oder bei den ihnen unterstellten „anderen Staatsbehörden“. Immer richtet sich die 
Beschwerde gegen den Minister, der die Verletzung begangen oder ihr nicht abgeholfen hat, 
wo er sollte und konnte. 
Die Beschwerde kann nur durch gemeinsame Schrift beider Kammern des Landtages 
erhoben werden. Sie geht durch das Gesamtministerium an den König. 
7) Verf.-Urk. § 144 hat die Vertrauenswürdigkeit des Staatsgerichtshofes noch durch ein 
besonderes Mittel erhöhen wollen: die Mitglieder werden nicht bloß „für diesen ihren Beruf be- 
sonders verpflichtet“, sondern auch „im bezug auf selbigen ihres Untertanen= und sonstigen Dienst- 
eides entbunden“. Der § 197 der Württemb. Verf.-Urk., der unserem § 144 sonst zum Vorbild 
diente, enthält diese Entbindungsvorschriften nicht. Hier wirken alte Vorstellungen nach, als könnte 
es gegen die Treupflicht des Beamten sein, wenn er als Richter gegen die Wünsche des Landes- 
herrn spräche. Die Entbindung der Richter vom Diensteid war deshalb früher bei Prozessen des 
Fiskus übliche Sache; vgl. Struben, Rechtliche Bedenken V S. 41ff.; Pfeiffer, Prakt. 
Ausführungen III S. 207. 
8) Verf.-Urk. 3 140 ist nachgebildet der Bayr. Verf.-Urk. Tit. X § 5. 
9) Fricker, Grundriß S. 252, 253. Für die Auslegung des übereinstimmenden § 5 
Tit. X der Bayr. Verf.-Urk. vgl. Seydel, Bayr. Staats-R. I S. 373. Insofern die Voraus- 
setzungen der Ministeranklage in der gleichen Weise formuliert sind (uvgl. unten Nr. 2), kann auch 
auf die für diese geltende Auffassung verwiesen werden: Goez, Staats-R. des Kgr. Württemb., 
S. 153. — Opitz, Staats-R. II S. 244 u. 237 Note 1, möchte unter „Verfassung“ das auf 
König und Stände bezügliche Recht verstehen, gleichviel ob es in der Verfassungsurkunde und 
ihren Anderungen und Zusätzen enthalten ist oder nicht. Das möchte vielleicht einem theoretischen 
Bedürfnis mehr entsprechen; aber dafür ginge sehr viel an Sicherheit der Abgrenzung verloren.
	        
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