218 Vierter Abschnitt: Zusammenwirken von Regierung und Volksvertretung. 8 26.
Soweit stimmt die Verfassungsbeschwerde vollständig überein mit der durch Verf.=
Urk. 8 110 geordneten ständischen Beschwerde wegen Pflichtwidrigkeit (vgl. oben § 18, II
Nr. 5). Man könnte die Verfassungsbeschwerde geradezu wie einen Anwendungsfall
der letzteren behandeln. Der Unterschied liegt einzig bei dem von dem angegangenen
Könige zu beobachtenden Verfahren. Dieses bleibt bei der allgemeinen Beschwerde wegen
Pflichtverletzung ganz in der Hand des Königs: wenn er nur einen Bescheid gibt, ist es
rechtlich gleichgültig, auf welchem Wege er dazu kommt. Hier aber ist der Weg ge-
nauer vorgezeichnet.
Will zwar der König der Verfassungsbeschwerde abhelfen und den Ständen will-
fahren, so kann er das ohne weiteres tun. Hat er aber Bedenken und will er sich die Mög-
lichkeit sichern, die Beschwerde abzuweisen, so kann er die Sache nicht allein erledigen,
ist vielmehr gehalten, darüber zunächst die Beratung und den Beschluß einer der höchsten“
Kollegialbehörden herbeizuführen. Als solche bezeichnet ihm Verf.-Urk. § 140 Abs. 2 die
„oberste Staatsbehörde“, d. h. das Gesamtministerium, und die „oberste Justiz-
stelle“, d.h. das Oberlandesgericht. 0) Zwischen beiden hat der König die Wahl.
Diese Wahl ist aber nicht frei, sondern soll sich richten „ach der Natur des Gegenstandes“.
Es wird wohl darauf ankommen, welche Stelle im gegebenen Falle mehr geeignet ist,
den Zweck des Instituts zu erfüllen, daß Recht und Gerechtigkeit in einleuchtender Weise
gehegt werden: handelt es sich mehr um formell juristische Auslegung von Verfassungs-
bestimmungen, so ist das Oberlandesgericht am Platze; liegt dagegen der Schwerpunkt
der Frage in der rechten Würdigung von Sinn und Wert des angefochtenen Staatsaktes,
so mag das Gesamtministerium eher geeignet sein, die der Vernunft des Rechts ent-
sprechende Entscheidung zu finden. 1) Ob die eine oder andere Stelle gewählt wird, das
macht für den weiteren Gang des Verfahrens einen bedeutenden Unterschied in recht-
licher Hinsicht.
Der Ausspruch des Gesamtministeriums ist nur ein Gutachten, welches dem
König erstattet wird, diesen aber nicht bindet. Er nimmt Kenntnis davon und verfügt
dann frei, was er für richtig hält. Ist aber das Oberlandesgericht befaßt worden, so hat
es „zugleich die Sache zu entscheiden“, spricht also an des Königs Stelle aus, was der
Beschwerde gegenüber Rechtens sei. Die „Sache“ ist aber hier nur die Hauptfrage: ob
eine Verfassungsverletzung vorliegt oder nicht. Nur darüber soll die Entscheidung dem
10) Nähere Bestimmungen fehlen. Der König wird nicht das ganze Oberlandesgericht zu
beauftragen haben; es genügt, daß es in derselben Weise auftritt, wie es auch Fragen des bürger-
lichen Rechts entscheidet, also etwa mit seinem ersten Senat.
11) Das Vorbild der Bayr. Verf.-Urk. Tit. X, § 5 läßt hier im Stiche. Sie bestimmt, daß
der König die Beschwerde „näher nach der Natur des Gegenstandes durch den Staatsrat oder
die oberste Justizstelle untersuchen und darüber entscheiden lassen wird". Der Bayrische Staatsrat
hat den französischen Conseil d’Etat zum Vorbild gehabt, für die Pfalz ist er ausdrücklich an dessen
Stelle getreten (Bayr. Verord. vom 9. Dez. 1825 &7 Ziff. 11). Das gab ihm die Eigenschaft
eines Verwaltungsgerichtshofs. Die Verteilung zwischen ihm und der obersten Justizstelle „nach
der Natur des Gegenstandes“ war dem entsprechend so gedacht, daß dieser alle Verfassungsbeschwer-
den zukommen sollten, bei welchen es sich um Fragen des bürgerlichen Rechts handelte, dem Staats-
rat dagegen alles Offentlichrechtliche. Die Folge ist, daß für die oberste Justizstelle gar nichts übrig
blieb:; der von Seydel, Bayr. Staats-R. I S. 374 Note 53, als einziger hervorgehobene
Fall ist genau betrachtet auch keiner. — Die Sächsische Verf.-Urk. konnte selbstverständlich ihren
ganz anders gearteten Staatsrat hier nicht verwerten; daher ersetzte man ihn durch das Gesamt-
ministerium. Dieses ist aber kein Verwaltungsgericht. Darum wäre es ein ganz öder Schematis-
mus, wollte man ihm zuweisen, was die Bayern ihrem Staatsrat zuweisen, d. h. alles. Man
muß den Mut haben, die Frage frei zu entscheiden nach der Natur der beiden Behörden.