g 3l1. Verwaltungsgerichte und Kompetenzgerichtshof. 275
Die Gesetzwidrigkeit, auf welche regelmäßig die Anfechtungsklage allein
zu gründen ist, kann sein: unrichtige oder Nichtanwendung des be—
stehenden Rechts oder Nichtbeachtung wesentlicher Formvorschrif-
ten des Verfahrens (7 76 Abs. 1). Es handelt sich aber hier nicht, wie bei der
Kassation und Revision des Zivilprozesses, nur um Wahrung der Rechtseinheit und des
richtigen Verständnisses der bestehenden Rechtsordnung. Sondern der Kläger soll auf
diesem Wege Schutz finden gegen ein ihm widerfahrenes Unrecht. Deshalb kann es
auch nicht genügen, daß das bestehende Recht auf den von der Behörde behaupteten
und festgestellten Tatbestand richtig angewendet sei: es kommt darauf an, daß es richtig
angewendet sei auf den Tatbestand, wie er wirklich lag.23) Deshalb kann das Gericht,
wenigstens soweit die tatsächlichen Merkmale des Zutreffens der Rechtssätze in Frage
stehen, in eine neue Prüfung des Sachverhaltes eintreten und ist die Partei berechtigt,
neue Tatsachen und neue Beweismittel vorzubringen.??) Dadurch wird die Anfechtungs-
klage ihrer Wirkung nach noch lange keine Berufung. Nicht bloß Ermessungs-
fragen werden nicht nachgeprüft, sondern auch tatsächliche Feststellungen nicht,
wenn sie nicht die Gesetzesanwendung unmittelbar zu tragen bestimmt und folglich
geeignet sind, diese zum Nachteil des Klägers zu verfälschen. 30) Die Partei kann sich
deshalb auch nicht damit begnügen, daß sie den angefochtenen Akt als unrichtig anficht;
sie muß angeben, „worin die Verletzung des bestehenden Rechtes oder die Mängel des
Berfahrens gefunden wurden“ (§ 78 Abs. 2).
Durch die Erhebung der Anfechtungsklage wird zunächst nur der Kläger Partei; er
steht allein der Obrigkeit gegenüber. Dabei kann es auch bleiben, so daß das Verfahren
mit einer Partei durchgeführt wird. Das Oberverwaltungsgericht kann aber durch
Beiladung dritter Beteiligter noch andere Parteien in den Prozeß setzen (& 45, 5J 81 Abs. 2).31)
28) Landt.-Akten a. a. O. S. 302, wo Bezug genommen ist auf Otto Mayer, Deutsch.
Berw.-R. 1 S. 195. Es wird darauf zurückzukommen sein.
29) Verw. R. Pfl. Ges. & 76 Abs. 2 (von der Zwischendeputation der „Klarheit und üÜber-
sichtlichtkeit. halber hinzugefügt: Landt.-Akten 1899/1900 Berichte der II. Kom. 1. S. 12);, # 81
bs. 3
30) Der Ausschluß der Ermessensfragen wird in der Begründung (Landt.-Akten 1899/1900
K. Dekrete 3, 1 S. 302) besonders hervorgehoben. Es ist das freie Ermessen der Verwaltungs-
verfügung gemeint, nicht die Anpassung des Gesetzeswillens an den Tatbestand durch die von
Beweisregeln entbundene Feststellung des diesem entsprechenden Maßes der Schuldigkeiten.
(Otto Mayer, Deutsch. Verw.-R. 1 S. 164 ff.). Deshalb würde die „Abschätzung“ behufs
der Steuerveranlagung unter die Nachprüfung der Anfechtungsklage fallen, wenn sie nicht aus-
drücklich ausgenommen worden wäre (5 75 Ziff. 2). — Dagegen wäre doch unser zweiter obiger
Satz noch besonders zu betonen. Unrichtige Auslegung eines Rechtsgeschäftes führt auf dem Ge-
biete des Zivilrechts immer zu unrichtiger Anwendung des Gesetzes; denn dieses steht dort immer
dahinter, ohne es wirkt das Rechtsgeschäft nicht. Das öffentliche Rechtsgeschäft, der Verwaltungs-
akt überhaupt, wirkt durch sich selbst, möglicherweise auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung,
aber das Gesetz ist auch dann nur die causa remota, es wird nicht falsch angewendet durch unrichtige
Auslegung der Konzession, Erlaubnis usw. Die Anfechtungsklage des Verw. R. Pfl. Ges. wird
entstellt — und das O. V. G. überlastet — wenn man sie überall gelten lassen will, wo jemandem
„Unrecht geschehen ist". An dem Erfordernis der Gesetz widrigkeit im Sinne des §# 76 Ziff. 1
muß festgehalten werden, der Verletzung des „bestehenden Rechts“.
31) Begründung: „Daher fehlt es hier von vornherein an einer wirklichen Gegenpartei —
eine solche kann nur nachträglich durch Beiladung in das Verfahren eintreten“ (Landt.-Akten
1899/1900 K. Dekrete 3, 1 S. 301).
In gewissen Fällen ist, nach Preußischem Muster, der Vorsitzende einer Gesamtbehörde be-
fugt, die Anfechtungsklage zu erheben gegen einen Beschluß seines Kollegiums. So nach Verw.
R. Pfl. Ges. § 77 der Vorsitzende des Bezirks= oder Kreisausschusses gegen dessen zweitinstanz-
liche Entscheidungen, nach Ges. vom 20. Juli 1900 der Lorsitzende der Reklamationskommission
gegen deren Entscheidungen in Einkommensteuersachen. Diese sind keine Partei und vertreten
18“