296 Sechster Abschnitt: Die Selbstverwaltung. g 33.
der Gleichberechtigung. Vielmehr verband sich mit dem Besitz des Rittergutes in vielen
Fällen eine patrimoniale obrigkeitliche Gewalt auch für das Gebiet dieser noch unent-
wickelten Gemeinden. So lange man es dabei beließ, eignete sich der Gutsbesitzer in der
Tat nicht wohl zum Gemeindegenossen der anderen.?) Diese Art von Oberhoheit ist jetzt
gänzlich weggefallen. Aber die Sonderstellung allein bringt immer noch einen ge-
schichtlich überlieferten Rangvorzug zum Auzdruck, an welchem die
schonende Sächsische Gesetzgebung grundsätzlich nicht ohne dringende Ursache rühren
wollte. 10) Diese rein geschichtliche Begründung würde bedeuten, daß im Sinne des Ge-
setzes (von Königlichen Schlössern und größeren Waldungen nach L.G.Ord. § 82a u. b
abgesehen) neue selbständige Gutsbezirke nicht geschaffen werden sollen. Ebensowenig
sollen Güter, welche diese Stellung einmal verloren haben, wieder darein zurückversetzt
werden. Dagegen ist die Vereinigung mit dem benachbarten Gemeindebezirk „durch
freie Übereinkunft“ jederzeit möglich. 11) Die Richtung des geltenden Rechts geht also
auf ein allmähliches Aussterbenlassen des Instituts. Die freie Übereinkunft der Betei-
ligten hat sich aber tatsächlich nicht sehr geneigt gezeigt, diese Entwicklung zu beschleunigen.
2. Der Gutsherr ist für den selbständigen Gutsbezirk, was die Gemeinde als selbst-
berechtigte Trägerin öffentlicher Verwaltung für den Gemeindebezirk. Der Gutsherr
ist aber für seinen Gutsbezirk zugleich der Privatunternehmer der seine Privat-
angelegenheiten darin wahrnimmt, und wenn diese fordern, daß alles in gutem Stande
gehalten sei, so decken sie sich mit vielem, was die Gemeinde ihrerseits als öffentliches
Gemeinwesen und in öffentlichem Interesse übernehmen und besorgen mag. Die hier
notwendig werdende Unterscheidung geschieht nach dem Maßstabe, daß nur diejenigen
Geschäfte von der Privatwirtschaft des Gutsherrn losgelöst gedacht werden, welche für
eine Gemeinde an seiner Stelle „Pflichten und Leistungen“ vorstellen würden, „die ihr
9) Die L.G.-Ord. von 1838 K# 7 bestimmt noch: „Ortsobrigkeit in Gemeindesachen ist die-
jenige Behörde, welcher die Erbgerichtsbarkeit über die Gemeinde zusteht.“ Das Ges. vom 11. Aug.
1855 hat die Patrimonialgerichtsbarkeit ausgehoben, den Gutsbesitzern aber noch zahlreiche „Ver-
waltungs= und Polizeibefugnisse“ in ihren alten Gemeinden belassen, wozu namentlich auch eine
Mitwirkung bei der Gemeindeaufsicht gehörte; vgl. die dem Gesetze beigegebenen „Bestimmungen,
die rechtlichen und politischen Verhältnisse der zeitherigen Gerichtsinhaber betreffend“. Erst das
Organis. Ges. vom 21. April 1873 hätte, durch Beseitigung auch dieser Rechte, Raum geschaffen
für eine auf Gleichberechtigung gegründete Gemeinschaft.
10) Die Motive zum Entwurf einer L. G.-Ord. von 1833 hatten noch eine Reihe von Rechts-
einrichtungen anführen können, welche die Vereinigung untunlich machten (Landt.-Akten 1833,
1. Abt. 1. Bd. S. 674, 675). Die Motive zur Rev. L.G.-Ord. von 1873 (Landt.-Akten 1871/73,
Abt. 1, Kgl. Mitt. Bd. 2 S. 407) bemerken, daß durch die geänderte Gesetzgebung „ein großer Teil
der Momente in Wegfall gekommen ist“ — von den anno 1833 aufgezählten tatsächlich alle. Sie
berufen sich auf die wirtschaftliche Ungleichheit, die „bei allen die Verteilung der Gemeindelasten
betreffenden Fragen schwer ins Gewicht fällt“, was aber ja bei der im Dorfe errichteten Fabrik
noch in größerem Maße zutrifft, ohne als abhilfefordernde Unzuträglichkeit empfunden zu werden.
Der wahre Grund liegt in dem beiläufig Bemerkten: „abgesehen von persönlichen Verhältnissen
und gewohnten, in langbestandenem Zustande wurzelnden Anschauungen.“ Die Zähigkeit, mit
welcher man an der Sonderstellung festhält, kommt von dem Gefühl, welches Montesquien
das „Prinzip“ der damaligen Monarchie nennt und von dem er sagt: „La nature de I’honneur
est de demander des préférences et des distinctions“ (Esprit des lois L. III Ch. VII).
11) L.G.-Ord. § 82 Abs. 2. Die Genehmigung der Aufsichtsbehörde muß selbstverständlich
dazu eingeholt werden: L.G.-Ord. § 97b. — Die Praxis hat die Gründung oder wenigstens Er-
weiterung exemter Gebiete zugelassen für Kasernenanlagen und Schießplätze (Zeithain). Wenn
es sich um leeres Land handelt, mag das angehen; ist eine „Ortschaft“ in Frage, so verbieter es
L.G.-Ord. §#1 ganz formell: „Gegenwärtiges Gesetz leidet auf alle nicht ausdrücklich als Städte
anerkannten Ortschaften Anwendung.“ Demgegenüber sind die „Exemtionen“ nach 3 82 streng
auszulegende Ausnahmen.