39. Die Thronfolgeordnung. 61
Diese Ordnung stellt sich dar als ein Gemisch von Regeln des bürgerlichen Rechts
über Blutsverwandtenfolge und von denjenigen Regeln der ordentlichen Thronfolge,
welche gegebenen Falls notwendig werden können, um die Individualsukzession zu
sichern.
Das bürgerliche Erbrecht bildet die Grundlage. Es wäre falsch, wegen des Ausdrucks
„entscheidet die Nähe der Verwandtschaft“ nun ohne weiteres mit dem abstrakten Formular
der Gradnähe vorzugehen. Was „Nähe der Verwandtschaft“ sei, hat unmittelbar vor
Errichtung der Verfassung das Mandat von 31. Januar 1829 festgestellt, „die Grund-
sätze der gesetzlichen Allodial-Erbfolge und mehrere Bestimmungen über einige damit in Ver-
bindung stehende Rechtsverhältnisse enthaltend“. 31) Danach sind die Blutsverwandten
ihrer Nähe zum Erblasser nach zuvörderst in vier Klassen geteilt, innerhalb der Klassen
kechnen sie nach Graden. Die Klassen sind: Abkömmlinge, Aszendenten, Geschwister und
deren Abkömmlinge, die übrigen Seitenverwandten (7 25).
Man darf aber auch nicht übersehen, daß es sich immer noch um eine weibliche
Linie handelt, d. h. wie wir sagten, um eine engere Abstammungsgemeinschaft
innerhalb der Nachkommenschaft des Ahnherrn des Hauses. Asbzendentenerbfolge ist
ausgeschlossen; die Mutter des letzten Königs stellt keine weibliche Linie vor. 32) So
bleiben also nur drei Klassen, die nacheinander in Frage kommen. 3) Innerhalb einer jeden
entscheidet die Gradnähe, so daß also z. B. die jüngere Tochter dem hinterlassenen Sohne
der äteren vorgeht. Bei Gleichheit des Grades entscheidet das „Alter der Linie und in
selbiger die Person“. Das Alter ist nichts anderes als der Vorrang der Erstgeburt oder der
Frühergeburt. Wäre nur von der Person die Rede, so könnte man irre werden und zu
dem ungefälligen Ergebnis kommen, daß der Sohn der jüngeren Schwester, die sich eher
verheiratet hat, als die ältere, dem dieser letzteren vorgehe. Aber was ist das Alter der
Linie? Doch nicht die frühere Abzweigung vom Hauptstamm? Das gäbe ja eher einen
Vorzug für die anderen, die eben deshalb dem Grade nach näher sind. Das bessere
Alter der Linie, das für sie entscheidet, ist die Abstammung vom Frühergeborenen.
die zur Zeit des Ablebens des letztregierenden Königs lebenden bayrischen Prinzessinnen oder Ab-
kömmlinge von denselben ohne Unterschied des Geschlechts ebenso, als wären sie Prinzen des ur-
svrünglichen Mannesstammes des bayrischen Hauses, nach dem Erstgeburtsrechte und der Lineal-
Erbfolge-Ordnung zur Thronfolge berufen werden“. Die Württembergische Verf.-Urk., #7,
läßt den Ubergang so geschehen, „daß die Nähe der Verwandtschaft mit dem zuletzt regierenden
Könige und bei gleichem Verwandtschaftsgrade das natürliche Alter den Vorzug gibt“ (Goez,
Staatsrecht des Kgr. Württemberg, S. 65 Note 4). Jenes ist die hochadelige, dieses die bürger-
liche Formel. Das Sächsische Recht verbindet hier Elemente aus beiden Systemen.
31) Gesetzsammlung 1829, S. 37ff.
3232) Wenn man wie Bülau, Verf. u. Verw. S. 47, einfach sagt: es wird „die dem letzten
Könige durch Blutsverwandtschaft zunächst stehende Person zur Thronfolge berufen", so kommt
die Mutter vor allen anderen in Betracht, und wenn man das „Alter der Person“ zur Entscheidung
heranzieht, wird sie immer obsiegen. Aber daß die Linie des Königs auch hier allen anderen Ver-
wandten vorgeht und daß diese nur dessen Deszendenz begreift, haben auch die Württemberger
anerkannt, obwohl ihnen der Wortlaut ihrer Verfassungsbestimmung keine Handhabe zu bieten
scheint: Goez, Württemb. Staatsrecht S. 65 Note 4.
33) Bülau bleibt durchweg bei der Rechnung nach unmittelbarer Gradnähe und Lebens-
alter und das führt ihn zu dem Ergebnisse, „daß die Deszendenten eines Königs durch dessen Kolla-
teralverwandte ausgeschlossen werden“, z. B. seine Enkelin durch seine ältere Schwester (Verf.
u. Verw. I S. 51 Note 19). Leuthold, Staats-R. S. 223 Note 4, stimmt ihm zu. Bü-
lau selbst sieht darin eine „Unvollkommenheit“. Es ist aber auch sicher falsch. Man darf doch
diese Kognatenerbfolge nicht aus den paar mageren Worten der Verfassung konstruieren, als wäre
ein bürgerliches Erbrecht gar nicht vorhanden gewesen. Dieses muß jedenfalls zur Auslegung
der Verf.-Note herangezogen werden. Das B. G. B. hat nichts daran geändert.