Full text: Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft. Band 6.1. Deutsches Verwaltungsrecht. (1)

$ 16. Die Rechtskraft in Verwaltungssachen. 177 
bunden an die von dem obersten Gerichtshof aus- 
gesprochene Rechtsauffassung!". 
V. Die Rechtskraft wirkt nicht für ewige Zeiten. Sie fällt 
vor allem dahin, wenn der obrigkeitliche Ausspruch, den sie doch 
nur bindet und verstärkt, seinen Gegenstand verliert und damit 
selber dahin fällt: wenn nicht mehr eadem res ist. Die Wissen- 
schaft des Zivilprozeßrechts hat diese Dinge so wohl durchgearbeitet, 
daß wir uns darauf beschränken können, einen Fall besonders zu 
erwähnen, der für sie nicht vorkommt. Das Verwaltungsurteil 
begreift auch Fragen des freien Ermessens und wird rechts- 
kräftig auch für sie. Auch hier gilt die Rechtskraft nicht mehr, 
wenn die Umstände sich wesentlich verändert haben, genügend 
also, um eine Andersbestimmung zu rechtfertigen. Ob das der 
Fall ist, entscheidet allerdings wieder das freie Ermessen der Be- 
hörde, und das wäre eine geringe Sicherheit für die auf die Rechts- 
kraft sich berufende ehemalige Partei. Allein zumeist wird als- 
dann in irgendeiner Form eine Rechtskontrolle, vor allem eine 
Anfechtungsklage wegen Gesetzesverletzung offen stehen, und bei 
dieser übersetzt sich dann dieses freie Ermessen wieder in die 
rechtliche Bestimmtheit durch den Maßstab des ordentlichen Ver- 
waltungsbeamten, der daran angelegt wird ®. 
11 Preuß. L.V.G. $ 101; Österr. Ges. v. 22. Okt. 1875 $ 7 Abs. 2. Man 
kann zweifelhaft sein, ob auf die bloße gebundene Rechtsanschauung der 
Name „materielle Rechtskraft“ noch paßt: Herzog, Rechtsmittelverf., S. 1393. 
Der französische Rekurs wegen Machtüberschreitung führt nur zur reinen 
Verneinung des angefochtenen Aktes, ohne Schaffung rechtlicher Gebunden- 
heiten für das Weitere, wie die Beschwerde. So bis zum Ges. v. 1. April 1837 
auch die Kassation; die „gebundene Rechtsanschauung“ ist erst durch dieses 
Gesetz, Art. 2, hereingebracht worden. Der Unterschied ist nicht so groß, 
weil die persönliche Verantwortlichkeit der Unterbehörden die Beachtung der 
Ansicht des obersten Gerichtshofes auch ohne das gewährleistet: Österr. Abg. 
Haus, Prot. Sess. VIII, Bd. III S. 4664 ff. Neu ist vor allem, daß auch dieser 
selbst an die von ihm aufgestellten Grundsätze gebunden ist: O.V.G. 6. März. 
1889 (Pr. Verw. Bl. X S. 336): 11. Juni 1900 (Entsch. AÄXXVII S. 48). — Das 
Sächs. Verw. R. Pfl. Ges. $ 82 bestimmt für den Fall, daß das O.V.G. auf An- 
fechtungklage die. Entscheidung aufhebt: „Die Verwaltungsbehörde ist an die 
Rechtsanschauung, von der das O.V.G. Jdabei ausging, gebunden.“ Aber da 
das O.V.G. auch die Tatfrage prüft (S 76 Abs. 2 des Ges.), so ist Jdie Behörde 
auch in dieser Richtung gebunden; die Formel der Revision reicht hier 
nicht aus. 
18 Vgl. oben S. 166. — Freies Ermessen und Gebundenheit durch das 
Recht der Partei, das bereitet natürlich Schwierigkeiten: Parey, Verw.R. ] 
S. 231; 0.VG. 1. März 1882 (Entsch. VIII S. 353). 
Binding, Handbuch. VI. 1: Otto Mayer, Verwaltungsr. I. 2. Aufl. 12
	        
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