Full text: Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft. Band 6.1. Deutsches Verwaltungsrecht. (1)

$ 20. Grenzen der Polizeigewalt. 225 
Damit ist nicht gesagt, daß es für solche Dinge überhaupt 
keine Polizei geben soll. Dem Rechtsstaat entspricht es nur, daß 
das Gesetz sie in der Hand behalte und mit vorsichtiger Auswahl 
selbst die Fälle bestimme, in welchen obrigkeitliches Ein- 
schreiten stattfinden soll ®. 
II. Auch wo Polizeigüter in Frage stehen, ist die Öffentliche 
Gewalt nicht so schlechthin berufen, daß sie zu ihrem Schutze 
einschreite. Sie findet vielmehr von der anderen Seite her wieder 
natürliche Grenzen gezogen durch das, was der Freiheit 
der Einzelnen in der wohlgeordneten bürgerlichen Gesellschaft 
vorbehalten bleibt. 
1. Vor allem kommt hier der Grundsatz zur Geltung, daß das 
Einzeldasein ursprünglich und in erster Linie sich selbst gehört: 
was dort mit seinen Nachteilen nicht über einen gewissen nächsten 
inneren Kreis hinauswirkt, bedeutet keine gesellschaftliche Schädi- 
gung, deren Unterlassung polizeiliche Pflicht zu werden hätte. So 
bildet sich der Begriff des Privatlebens als desjenigen Gebietes 
des Einzeldaseins, welches der Polizei unzugänglich ist, weil es 
die Gesellschaft, das Publikum, nicht angeht. 
welche den Anschein hervorbringt, als sei der Unternehmer im Besitze einer 
polizeilichen Erlaubnis, die doch gar nicht erforderlich war (O.V.G. 10. Juni 
1895; Entsch. XXVIII S. 326). — Zu weit ging dem Verwaltungsgericht das 
polizeiliche Einschreiten gegen den Gutsbesitzer, der in Briefen seinen Wohn- 
ort nach dem alten Rittergutsnamen bezeichnet, statt nach der Gemeinde, wozu 
er jetzt gehört (O.V.G. 18. Okt. 1907; LI S. 228); gegen die Bezeichnung 
„Bahnhofhötel“, die einer Wirtschaft neben dem schönen neuen Bahnhof ge- 
geben worden war und das Publikum zu dem Irrtum verleiten konnte, es be- 
stehe ein Zusammenhang mit der königlichen Bahnverwaltung (Sächs. O.V.G. 
19. Sept. 1903; Jahrb. V S. 33). 
Im Wattenmeer hatten die Leute mit einem Bootsgeschütz auf Enten ge- 
jagt; der Landrat erließ ein (vom Gericht mißbilligtes) Polizeiverbot nach 
A.L.R. U, 178510 „wegen Massenmordes und unweidmännischer Jagdausübung“ 
(0.V.G. 16. März 1903; Entsch. XLIII S. 285). 
5 Um die häßlichen Reklameschilder am Rheinufer spielte eine Zeitlang 
die Frage. Das Kammergericht hatte sie erst als polizeilich verbietbar be- 
handelt: „die Störung kann auch in unangenehmen ästhetischen Empfindungen 
bestehen“ (Entsch. v. 7. Sept. 1899). Später (Entsch. v. 4. Febr. 1901) stellte 
es sich aber auf den richtigen Standpunkt: „um solche Zwecke zu erreichen, 
bedarf es einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung“ (Verw.Arch. IX S. 452; 
vgl. 0.V.G. 16. April 1901, Entsch. XXXIX S. 415). — Eine Strafbestimmung 
wie die des $ 360 Ziff. 11 Stf.G.B.: „wer groben Unfug“ verübt, entspricht 
dieser Aufgabe des Gesetzes freilich ganz schlecht. Sie hat einfach die 
Wirkung, daß nun auch die Gerichte alle die curiosa zu liefern bekommen, 
welche bei Ausdehnung der allgemeinen Polizeiermächtigungen auf den Schutz 
geistiger Güter der Eifer der Polizeibehörde hervorbringt. 
Binding, Handbuch. VI. 1: Otto Mayer, Verwaltungsr. I. 2. Aull. 15
	        
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