$ 2. Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft. 19
man das letztere nicht recht kannte, war auch die Scheidung der
beiden Massen willkürlich und planlos, das Verwaltungsrecht ein
loses Nebeneinander von allerlei. Das der deutschen Rechtswissen-
schaft eigentümliche Bedürfnis nach strenger Systematik suchte
demgegenüber seine Befriedigung in der Anlehnung an die kräftig
aufblühende Staatswissenschaft, der Nachfolgerin der alten
Polizei- und Kameralwissenschaft.
' Eine neue Richtung, welche seit den sechziger Jahren in Gang
kam, hat es verstanden, unter Benutzung Hegelischer Ausdrucks-
formen die Verwaltungslehre so vorzutragen, daß die Einzelheiten
der staatlichen Tätigkeit als wissenschaftlich notwendige Offen-
barungen der dahinter stehenden großen Ideen angesehen werden
wollten. Danach gliederte sich alles in einem geschlossenen System
nach den verschiedenen Zwecken, die da verfolgt werden, als Schul-
wesen, Gewerbewesen, Gesundheitswesen, Armenwesen, Eisenbahn-
wesen usw. Das Verwaltungsrecht wurde von diesen „Wesen“
einfach ins Schlepptau genommen, indem ein jedes mit derselben
wissenschaftlichen Notwendigkeit das ihm entsprechende Recht „er-
zeugte“. So bekommt auch dieses ganz von selbst sein System,
Wenn die Juristen für die Darstellung des Verwaltungsrechtes
dieser von staatswissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgehenden
Ordnung folgten, so geschah das vor allem deshalb, weil sie
geeignet sein mag, zugleich dem Bedürfnis des Verwaltungs-
beamten entgegenzukommen. Der hat einen bestimmten Geschäfts-
kreis, ein „Wesen“ zu besorgen, und es muß ihm erwünscht sein,
wenn er alle darauf bezüglichen Rechtsvorschriften um das damit
gegebene Stichwort vereinigt findet. Treffliche Lehrbücher des
deutschen und des einzelstaatlichen Verwaltungs-
10 Der Führer auf diesem Gebiete war L. Stein: Verw.-Lehre 1865
bis 1868, zum Teil neu aufgelegt 1869, 1882—188&4; Handbuch der Verw.-
Lehre und des Verw.Rechts, 3. Aufl. 1888. — „Nicht frei von willkürlichen
Konstruktionen, die zum Teil durch eine ungenügende Kenntnis des positiven
Rechts veranlaßt sind“, urteilt darüber Loening, V.R. S. 26, ganz richtig.
Nichts destoweniger konnte Grotefend, Preuß. V.R., I S. 64, noch 18%
sagen: „Die Steinschen Werke sind der Grund- und Eckstein der Wissen-
schaft des Verwaltungsrechts geworden“. Und noch Inama-Sternegg,
Staatsw. Abhandl. S. 57 fi. (Vortrag in der Jur.Ges. in Wien 1902), beklagt die
nicht erfolglosen Bestrebungen der Juristen, das Verwaltungsrecht dem gegen-
über auf eigene Füße zu stellen. Neuerdings wird aber wieder eher umgekehrt
die Loslösung der Verwaltungslehre von der übermächtig gewordenen Rechts-
wissenschaft befürwortet: Gargas, in Ztschft. f. Stsw. 1903 S. 428; F. Schmid,
ebenda 1909 S. 201 ff.
2*