$ 38. Die Gebrauchserlaubnis. 177
Anders liegt die Sache, wenn ein Stück des Gebäudes
selbst in Frage ist, das über die Straße herausragt. Solche Vor-
sprünge (Erker, Balkone, Gesimse, Risalite) bedürfen selbst-
verständlich einer Genehmigung von seiten des Herrn der Straße,
einer Gebrauchserlaubnis; denn im Gemeingebrauch sind sie nicht
enthalten. Zugleich bedarf das ganze Gebäude mit samt dem
Vorsprung der allgemein erforderlichen baupolizeilichen Genehmigung,
die, einmal erteilt und ins Werk gesetzt, nicht mehr zurückgenommen
werden kann (Bd. I S. 264). Die Baupolizeibehörden sind nun durch
die Baupolizeigesetze und -Verordnungen ermächtigt, in gewissem
Maße auch solche Vorsprünge mit zu genehmigen und dadurch zu-
gleich die Benutzungserlaubnis des Straßenherrn mit zu geben“.
Diese teilt alsdann die Nichtzurücknehmbarkeit der Bauerlaubnis;
ansonst hätte dieses keinen Sinn.
Der so begründete Rechtszustand darf aber nicht verwechselt
werden mit einer zivilrechtlichen Grunddienstbarkeit oder einem
subjektiven Öffentlichen Recht an der Straße. Er ist rein bau-
polizeilicher Art: fällt das Gebäude weg und wird neu gebaut, so
beginnt auch die Frage der Zulässigkeit des Vorbaues aufs neue "®.
14 Hier kommt die Fluchtlinie zur Bedeutung. Vgl. A. L.R. I, 8 55 78-82;
Preuß. StraßenAnl.Ges. v. 2. Juni 1875 $ 11; v. Strauß u. Torney, Kom. S. 90;
Sächs. Bauges. v. 1. Juli 1900 $ 97; Rumpelt, Kom. S. 232.
18 0.V.G.7. Jan. 1899 (Entsch. XXXV S. 27); v. Strauß u. Torney, Kom.
2. Preuß. StraßenAnl.Ges. S. 90. Man könnte ja die Gestattung des Vorbaues
sich auch als Verleihung eines besonderen Nutzungsrechts vorstellen nach dem
unten $ 39 zu behandelnden Rechtsinstitut. Aber die Abhängigkeit von dem Fort-
bestand des Gebäudes und dem daran gebundenen Fortbestand der Bauerlaubnis
ist durchschlagend: für die etwaige Neuerrichtung kommt diese nicht mehr in
Betracht; wenn sie bezüglich des Vorbaues in freies Ermessen gestellt ist oder
in der Zwischenzeit strengere Bauvorschriften ergangen sind, dann zeigt sich, daß
der Eigentümer ein wohlerworbenes Recht nur besaß an seinem Grundstück und
dem rechtmäßig darauf errichteten Gebäude, nicht aber an der Straße. — Eine
Verleihung des Rechts zum Vorbau über die Straße kommt daneben als möglich
in Betracht. Aber soweit eine solche Zuständigkeit der Baupolizeibehörde nicht
gegeben ist, kann sie zu Lasten des Herrn der öffentlichen Sache rechtsgültig
nicht so verfügen, ihre Bauerlaubnis also stets zurückgenommen werden (vgl. oben
Bd.I 8.266). Der Bauende, um sich zu sichern, wird also eine Verleihung nach-
suchen müssen, die von der hierfür zuständigen Stelle auszugehen hat und in den
erforderlichen Formen. Von einem solchen Falle handelt Ubbelohde, Glücks
Pand. Bd. 43 u. 44 S. 111 ff.: Der Eigentümer will sein neues Haus im ersten und
zweiten Stockwerk erheblich über die Straße vorspringen lassen, mehr als polizei-
lich erlaubbar; die königliche Polizeibehörde gibt die baupolizeiliche Genehmigung:
die Stadtvertretung widerspricht und droht mit gerichtlicher Klage, die nach
Ubbelohde eine negatoria in rem actio gewesen wäre, Die Sache war aber viel-
Binding, Handbuch. VI.2: Otto Mayer, Verwaltungsrecht. I. 2. Aufl. 12