344 Das Recht der besonderen Schuldverhältnisse.
4. Das Verhalten, welches Anlaß gibt zu dienstlichem Ein-
schreiten, kann zugleich den Tatbestand darbieten, auf welchen
eine Strafe des gemeinen Rechts gesetzt ist. Selbst-
verständlich läßt sich der Strafrichter dadurch nicht beirren; aber
auch umgekehrt ist die Möglichkeit einer Verurteilung durch ihn
kein Hindernis für das Disziplinarverfahren. Beides hat seinen
selbständigen Zweck, dessen Wahrnehmung dem anderen Teil nicht
überlassen werden kann. Das tritt am deutlichsten hervor bei der
Strafentlassung, die durch die gemeine Strafe nur dann entbehrlich
gemacht wird, wenn sie selber die Amtsunfähigkeit nach sich zieht.
Aber auch die anderen Strafmittel der Disziplin haben noch ihre
selbständige Bedeutung, insofern eben bei dem strafbaren Beamten
noch die besondere Wirkung hervorzubringen ist, die je nachdem
einer solchen Nachhilfe doch noch bedarf°*. Einer allzu großen
Härte, die das Zusammentreffen der zweierlei Strafen mit sich
bringen könnte, wird tatsächlich von beiden Seiten bei Auswahl
und Bemessung der Strafen genügend vorgebeugt werden.
Damit läßt sich ein gewisser Vorzug des gerichtlichen Ver-
fahrens wohl vereinigen, wie die Gesetze ihn zur Geltung kommen
lassen. Es ist natürlich nicht wünschenswert, daß zwischen den
beiderseitigen Behörden ein Widerspruch zutage trete in dem
vorgesetzte Behörde nach dem Interesse des Dienstes die Verfolgung einleitet;
nur denkt er sich das wie eine privatrechtliche „Rechtsverfolgung“; vgl. oben
Note 50. Daraus zieht er dann die Anschauung, „daß die Entscheidung darüber,
ob der Anspruch besteht oder nicht, ihrem Wesen nach eine richterliche Ent-
scheidung ist“ (S. 274); das trifft wiederum mit unserer oben gegebenen Auf-
fassung der Rolle der besonderen Disziplinarkammer überein, nur ist es wieder
zu stark zugespitzt auf das privatrechtliche Vorbild. Seydel sieht deshalb die
hier betrachtete Rollenverteilung als das Naturgegebene an; wo sie äußerlich
nicht durchgeführt ist, vereinigt die vorgesetzte Dienstbehörde naturwidrigerweise
beides. „Aus diesem Rechte zu fordern ergibt sich nicht das Recht zu ent-
scheiden, ob der Forderung genügt oder ob wegen Nichterfüllung der Forderung
Dienststrafe verwirkt sei. Die Behörde, welche die Dienststrafe verhängt, richtet.” —
Für uns kommt umgekehrt etwas wie eine richterliche Tätigkeit erst zum Vor-
schein dadurch, daß diese Seite der Sache aus der Einheit des Vorganges gelöst
und einer besonderen Behörde zugewiesen wird. Seydels Meinung mag immer-
hin dazu dienen, diese Auffassung zu bekräftigen.
°* Die aufzehrende Kraft des Strafrechtssatzes läßt die Androhung einer
polizeilichen Ungehorsamsstrafe für den gleichen Tatbestand nicht zu; vgl.
oben Bd. 18. 291. Um die Beseitigung des polizeiwidrigen Zustandes zu er-
zwingen, den das Delikt hinterlassen hat, ist gleichwohl die Ungehorsamsstrafe
verwendbar; vgl.S.293 a.a.O. Das letztere entspricht unserem Fall: der Dienst
ist in Unstand geblieben; ob hier noch etwas zu tun ist, ermißt die mit dieser
Sorge betraute Behörde.