$ 53. Ausgleichende Entschädigung. 545
Sonderbestimmung des B.G.B. $ 839: der Staat haftet dem Dritten jetzt auch für
die Verletzung der ihm, dem Staate selbst, geschuldeten Amtspflicht, sobald nur
der Dritte seinerseits mit seinem Vermögen an der Erfüllung beteiligt gewesen
wäre (vgl. oben Bd. I S. 192ff.). Das verliert aber bei dieser Wendung seinen
Sinn. Denn je sorgfältiger und genauer der Staat jetzt durch seine Aufsichts-
behörden die Amtspflicht bestimmen läßt, desto leichter wird diese ihm gegen-
über verletzt, und desto leichter muß er selber dann dafür zahlen! — Die alten
zivilrechtlichen Konstruktionen haben, abgesehen von den Note 36 erwähnten
Fällen der öffentlichen Verkehrsorte und des übernommenen Gewahrsams, den
Staat nicht haftbar gemacht für Unterlassungen seiner Beamten, sondern
nur für wirkliche Eingriffe, wodurch man noch Fühlung behielt mit der Ent-
eignung. Jetzt wird das in weitestem Umfange ermöglicht, R.G. 1. Mai 1907
(Entsch. LXVI S. 107): Der Amtsrichter, der zugleich Grundbuchrichter ist,
fälscht einen Grundschuldbrief mit Unterschrift seines Stellvertreters unter Be-
nutzung eines Grundbuchformulars und des Gerichtssiegels und erhält darauf von
einer Bank ein Darlehen. Der Staat wird verurteilt, diese zu entschädigen. Die FAl-
schung selbst und die Täuschung der Bank damit können vielleicht „als Handlungen
erachtet werden müssen, die außerhalb des Amtsbereiches des Grundbuchrichters
lagen“ (S. 112). Aber: „Zu den ihm in dieser Eigenschaft obliegenden amtlichen
Pflichten gebörte zweifellos die Verwahrung der Grundbuchformulare und die Obhut
des Gerichtssiegels“ (S. 111}. Die Schädigung der Bank ist erst ermöglicht worden
durch „die hier verletzte Überwachungspflicht des Grundbuchrichters“. Um zur
Haftung des Staates nach B.G.O. $ 12 (B.G.B. $ 839) zu gelangen, unterstellt man
also bei dem verbrecherischen Grundbuchrichter noch eine besondere Verletzung
der Amtspflicht, die Grundbuchformulare und das Siegel zu hüten vor sich selbst!
Die Tragweite der ganzen Auffassung enthüllt sich aber erst, wenn man den Tat-
bestand von dieser Seltsamkeit befreit denkt und annimmt, ein Dritter hätte das
Formular und das Siegel unter Unaufmerksamkeit des Amtsrichters so benutzt.
Daß der Staat dann für die Schandtaten dieses Dritten hafte, geht immer noch
weit über das ursprünglich Erstrebte hinaus und mit der Enteignungsentschädigung
fehlt jeder geistige Zusammenhang, den wir hier doch immer aufrechterhalten
baben. R.G. 15. Okt. 1903 (Entsch. LV S. 365): Der städtische Gasinspektor wird
benachrichtigt, daß in einem Hause Gasgeruch wahrgenommen werde; er geht
dort hin, meint nichts Erbebliches wahrzunehmen, in der Nacht aber stirbt im
Nachbarhaus ein Bewohner an Vergiftung durch ausströmendes Gas. Das Gericht
nimmt an, daß es sich um Ausübung der öffentlichen Gewalt (Wohlfahrtspolizei)
handle, wofür die Stadt gemäß einem den neuen Gesetzen zu E.G. Art. 77 ent-
sprechenden (sächsischen) Gewohnheitsrecht haftet; der Inspektor wäre „in seiner
Eigenschaft als Polizeiorgan verpflichtet gewesen als solches die erforderlichen
Maßregeln zu treffen, um die Gefahren abzuwenden“, welche das ausströmende
Gas für die Bewohner der Wohnhäuser „mit sich bringen konnte“. Auf solche
Weise wird das Gemeinwesen überall haftbar gemacht werden können, wo die von
ihm bestellten Schutzengel ihrem Zwecke nicht genügen. Da die Ausübung der
öffentlichen Gewalt die ganze öffentliche Verwaltung bedeutet (vgl. oben $ 52
Note 32) und überall, wo durch Amtspflichtversäumnis der Beamten ihre Wohl-
taten den Einzelnen nicht voll zuteil werden, das Gemeinwesen zahlen muß, so
kann der mehrfach beklagte „Individualismus“ und „Kapitalismus“ hier noch
wahre Orgien feiern.
Binding, Handbuch. VI. 2: Otto Mayer, Verwaltungsrecht. LI. 2. Aull. 3