$ 55. Die juristische Persönlichkeit des öffentlichen Rechtes. 577
Hier begegnen wir nämlich einer sehr wichtig gewordenen Lehre, welche dem
Willen für die Person einen anderen Sinn und eine andere Bedeutung zuschreibt,
als wir hier getan haben. Es ist, wie sie sich selbst nennt, die „Theorie der
realen Gesamt- oder Verbandspersönlichkeit“ oder auch kurz
„Willenstheorie“. Danach wäre der Wille nicht bloß eine Ausrüstung der
Person, die sie nötig hat, um im Rechte zu stehen, sondern der Wille bildet ihren
Kern, ihr inneres \Vesen, ihre nicht vom Recht erst geschaffene, sondern vorher
schon bestehende „Realität“. Das wird zunächst von der „natürlichen“ Person,
vom einzelnen Menschen behauptet: jeder Mensch ist Person und Rechtssubjekt
deshalb, weil ein Wille in ihm ist. Darunter ist selbstverständlich nicht der
Wille verstanden, den wir meinen, wenn wir von Willensfähigkeit sprechen; jeder
Mensch hat diesen Willen, darum ist eben auch jeder ein Rechtssubjekt; dieser
Wille ist also einfach der allgemeine Wille zum Leben, wie man früher wohl
sagte: die Lebenskraft, die Seele. Gierke, Genossensch.R. II 8. 338: „Es war
(im germanischen Recht) der freie, aber sittlich gebundene, der sittlich freie Wille,
welcher die Seele der germanischen Persönlichkeit bildete“; S. 386: Das Rechts-
subjekt ist „verkörperter Wille“; S.40: Der „Einzelwille ist Person“; S. 475: „Der
Wille ist im Gebiet des Rechts die Seele der Persönlichkeit“.
Wenn wir sagen: der Mensch ist Persönlichkeit, weil er lebt, und Gierke
sagt: weil er einen Willen bat, so wird hier kein Widerspruch fühlbar. Denn
dieser Wille ist eben nichts anderes als der lebendige Odem, der dem Adam in
seine Nase geblasen wurde. Beim Kind würden nach dieser Ausdrucksweise
zweierlei Willen rechtlich relevant: sein eigener, wegen dessen es allerdings
willensunfähig genannt wird, aber doch Person ist, und der ihm aushelfende
Wille seines Vormundes, der allein wirkungskräftig ist und zu seiner Ausstattung
mit dem nötigen Sachwalterwillen dient.
Aber tiefgehende Gegensätze werden kund, sobald wir nun von der natür-
lichen zur juristischen Person übergeben: Wenn der Wille das Wesen der Person
ausmacht, so muß auch die juristische Person einen solchen haben, nicht
von außen beigegeben, wie der des Vormundes für das Kind, sondern ihr inne-
wohnend, wie dem Kinde die Seele. Und dieses wird von der hier besprochenen
Theorie bejaht. Darin besteht eben die „Realität der Verbandspersonen“. Gierke,
Genossensch.R, II S, 40: Die Verbandspersonen, Anstalt wie Körperschaft, heben
aus den ihnen zugehörigen „Willenssphären“ (= Rechtssubjekten = Menschen)
eine zur Einheit verbundene Willensmacht beraus. „Indem der so gebundene
und belebte Einheitswille vom Recht als Subjekt anerkannt wird, ist er genau in
demselben Sinne wie der Einzelwille Person.“ Gierke, D.Pr.R. IS. 640: Die
rechtsfähige Anstaltspersönlichkeit entsteht dadurch, „daß der Träger eines Öffent-
lichen Willens von seinem eigenen Verbandsorganismus einen zu selbständiger
Leben befähigten gesellschaftlichen Organismus abzweigt und durch Einstiftung
eines einheitlichen Willens beseelt“ (der lebendige Odem!). I S. 647: Die rechts-
fähige Stiftung „ist ein selbständiger gesellschaftlicher Organismus, dessen Seele
der in ihm fortwirkende Wille des Stifters und dessen Körper der zur Verwirk-
lichung dieses Willens hergestellte Verband von Menschen bildet.“ Was hier
Gierke sagt, kann als die maßgebende Formulierung der Lehre von der Realität
der Verbandsperson angesehen werden, um die heutzutage eine so bedeutsame
Anhängerschaft sich versammelt findet. Niemand, der sich nicht an Worten be-
rauscht, wird sich freilich verhehlen, daß der Lebenswille, der hinter der natür-
Binding, Handbuch. VI.2: Otto Mayer, Verwaltungsrecht. II. 2. Aufl. 97