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Der alte Wratislav konnte von so schwerer Trauer nie mehr
genesen. Mehr noch als der Verlust der geliebten Söhne schien
ihn ein anderer tief geheimer Gedanke zu quälen, dem er nur, wenn
er sich unbelauscht glaubte, nachzuhängen wagte, und er erschrak
über jede Andeutung, die ein fremdes Mitwissen ahnen ließ. Er
nahm diesen Gedanken mit in das Grab, das ihn nach wenigen
Monden mit den gefallenen Helden wieder vereinigte.
Boleslav war nunmehr als der Letzte seines Stammes zu be—
trachten; denn der entflohene erstgeborene Bruder, der nicht einmal
teilhatte an dem jetzigen Namen des Geschlechtes, der geächtet als
Verräter sich nie zurückwagen durfte, wenn er nicht anders schon
im ungleichen Kampfe gefallen war, konnte nicht mehr in Rede
kommen. Als rechtmäßiger Erbe nahm Boleslav Besitz von der
Burg und den reichen Gütern, die mit ihr zusammenhingen, und
waltete als ein treuer Vasall seines Kaisers, als ein milder und ge—
rechter Herr über seine Untertanen.
Jahre waren verstrichen. Da wurde dem Schloßherrn eines
Tages ein Fremdling gemeldet, der mit ihm in wichtigen Angelegen—
heiten zu sprechen habe. Als der starke, sonnengebräunte und in
seinem Antlitze durch tiefe Narben entstellte Fremde vor Boleslav
geführt wurde, gab er sich diesem als der verschollene Bruder Miesco
zu erkennen.
Boleslav zögerte, den wilden Gesellen willkommen zu lassen;
als dieser aber mit herzlichen Worten bat, das Vergangene zu ver-
gessen, und versprach, keinerlei Ansprüche auf das väterliche Erbe
zu erheben, da gewährte ihm der jüngere Bruder die Bitte, ihn mit
seinen beiden Söhnen Tugumir und Stomef und einer Handvoll
treuer Diener in den Schutz der Burg aufzunehmen.
Wie erstaunte jedoch der arglose Boleslav, als nun die Zug-
brücke niedergelassen wurde und Miesco mit seinen Söhnen an der
Spitze einer stattlichen Reiterschar seinen Einzug hielt. Trotzig sahen
sich die einreitenden Sorben im Burghofe um, und auch Miesco
hatte jetzt seine vorige bescheidene Freundlichkeit abgelegt und trat
dem Bruder, der ihn grüßend empfing, recht hochmütig entgegen.
Aber noch ahnte Boleslav nicht die wahre Gesinnung des
Bruders. Er führte ihn in den Burggarten. Dort blieb er mit an-
dächtigem Ernste vor den sechs jungen Eichen stehen, die schön und
Rräftig emporstrebten.
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