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1264. Der Singestein bei Postelwitz.
Gräße, Bd. I, Nr. 164; romantisch bearbeitet von Gottschalck, Deutsche
Volksmärchen. Leipzig 1845, T. I, S. 153—162.
Am rechten Elbufer, oberhalb Schandau, liegt das Dorf
Postelwitz, und in der Aähe desselben erhebt sich ein hoher Felsen,
genannt der Singestein, von dem aus man eine herrliche Aussicht
ins Elbtal genießt. Hier Kkommt an Sonn= und Festtagen, sowie
an schönen Sommerabenden die Postelwitzer Jugend zusammen und
treibt da muntere Spiele, obgleich die Sage von der Entstehung
des Namens uns eher trübe als heiter stimmen möchte. Es soll
nämlich einst zu Pirna ein Hirt gewesen sein, der seine Schafe früh
stromaufwärts und nach Tische stromabwärts am Elbufer weidete.
Schön war er, das wußten alle Alädchen der Umgegend, allein
noch kannte er die Liebe nicht; er freute sich seiner Jugend, liebte
seine Herde, allein alles andere Kkümmerte ihn wenig. Gewöhnlich
lagerte er sich am Nachmittag unter einem dichtbelaubten Baume,
sah seine Lämmer um sich herum spielen, blies sich ein Liedchen auf
seiner Schalmei und verträumte so den Tag im süßen Nichtstun.
Siehe, als er sich wieder einst so ins Grüne gelagert hatte, da er-
blichte er am andern Ufer eine schöne Jungfrau, welche eine Herde
Ziegen weidete; am andern und den folgenden Tagen war Hirtin
und Herde wieder da, und so gewöhnte er sich daran, täglich hin-
über nach dem Mlädchen zu sehen, und siehe, auch dieses schaute
zu ihm herüber, so freundlich und liebreich, daß er seine Schalmei
ergriff und ihr ein Liedchen hinüberspielte. Wie freute er sich aber,
als diese ihm mit lieblicher Stimme eine Antwort sang; er zeigte
mit seiner Hand hinüber, die Jungfrau winkte ihm und wies auf
den nahen Felsen. Als es nun Abend geworden war, da eilte er
mit seinen Schafen nach Hause; aber Rkaum waren diese besorgt,
da war er auch schon wieder am Stromesufer, und wie er hinüber-
schaute und beim Mondenlicht hoch oben auf dem Felsen das
Nlädchen stehen sah, da hielt er sich nicht, es zog ihn mit tausend
Armen hinüber, und da er ein gewandter Schwimmer war, so
hatten die blauen (7) Wogen ihn bald ans andre Ufer getragen, und
bald war er oben auf dem Gipfel des Felsens. Hier sagten sich
die beiden jungen Liebenden in Worten, was sie sich längst schon
mit Blicken mitgeteilt hatten; aber die Zeit verstrich zu schnell, und
schon war es Mitternacht, als der Schäfer seine Schäferin verließ