Full text: Sagenbuch des Königreichs Sachsen

— 96 — 
Anfangs erschien dieselbe als weiß gekleidete Jungfrau, später aber 
als altes Mütterchen. In dieser Gestalt ist sie noch vor einigen 
Jahren von Holzlesern gesehen worden. 
117. Der gespenstige Freier auf Hartenstein. 
Gräße, Bd. I, ANr. 556; poetisch beh. von Wiese bei J. Günther, 
Großes poetisches Sagenbuch der Deutschen, Jena 1846, Bd. I, S. 123. 
Auf dem Schlosse Hartenstein, dem Stammschlosse der Schön- 
burge, fand sich einst jeden Tag ein Schattenritter ein. Man 
nannte ihn König Vollmer den Geisterkönig. Er hatte, man weiß 
nicht wie, die Liebe der schönen Kunigunde von Schönburg, als sie 
noch Kind war, gewonnen und dieselbe erklärte, ihn und Reinen 
andern wolle sie ehelichen. So ritt er denn jeden Tag auf unsicht- 
barem MBosse ins Burgtor ein, zog dasselbe, ohne daß jemand es 
sah (nur hören konnte man seinen Tritt), in den Stall und stieg 
dann selbst unsichtbar und nur am Schall seines Trittes kenntlich, 
die Schloßtreppe hinan. Dort Rkam ihm seine Braut entgegen, der 
reichte er seine Hand — das war der einzige fühlbare Teil seines 
Körpers, weich und glatt, aber eiskalt — und nun sprachen und 
kosten sie zusammen, wie zwei Liebende es tun. Dann schritten sie 
in den Speisesaal, wo ihrer schon der Bruder des Fräuleins harrte, 
und alle drei setzten sich zu Tische und aßen und tranken nach 
Herzenslust. Die dem Schattenritter vorgelegten Speisen und der 
Wein in seinem Becher verschwand, und doch sah niemand, wo es 
hinkam. Man hörte nur des Schattenbräutigams Stimme und der 
Graf, dem früher vor seinem geisterhaften Schwager gegraut, faßte 
immer mehr Aeigung zu ihm, denn er hatte an ihm einen steten 
treuen Berater und Warner bei bevorstehendem Unglüch. Wenn 
das Mahl vorüber war, verließ der Graf die beiden Brautleute, und 
so saßen sie bis kurz vor 1 Uhr; da nahm der gespenstige Gast 
eilig Abschied. So trieb er es viele Jahre, da äußerte einmal das 
Fräulein, wie sie sich nach einem Kusse von seinem Munde sehne, 
und siehe ihr geisterhafter Bräutigam antwortete: „Lebe wohl auf 
ewig, weil ich an deine rein geistige Liebe glaubte, verließ ich 
mein himmlisches Reich, um bei dir zu sein, jetzt wo du an irdische
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.