Full text: Sagenbuch des Königreichs Sachsen

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Um Mitternacht zur Zeit des Vollmondes, wenn aus den 
Wiesen, welche der Haarthteich netzt, die dichten weißen Aebel auf— 
wallen und bläuliche Irrwische in zahlloser Menge am Boden 
hüpfen, erscheint hier ein wunderschönes Wesen, vom Volke nur 
„Die weiße Frau“ genannt. Sie ist in ein langes Linnengewand 
gehüllt, das ein Gürtel um die Hüften zusammenhält. Auf dem 
Anger neben dem Teiche bleicht sie Wäsche im Mondenschein und 
begießt dieselbe eifrig mit Wasser. Oft und sorgsam zählt sie auch 
die Stücke. Einst wandelte ein schalkhaft loses Mädchen, vom 
Tanze aus der Hübelschenke zurückkehrend, ganz allein um Mitter— 
nacht daselbst vorüber. Da hörte sie in ihrer Nähe die Worte: 
„Hier fehlt ein Stück, hier fehlt ein Stück!“ Aufblickend gewahrte 
sie die weiße Frau. Schnell gedachte das Mädchen an einen 
Schabernach, ergriff einen Stein, warf ihn mitten unter das Linnen- 
zeug und rief: „Hier fehlt auch ein Stüchl!“ Dann wollte sie fliehen. 
Doch ihre Füße erlahmten. Ein eiskalter Finger rührte leise in 
ihren Nacken. Sie wandte sich um und schaute in ein jungfräulich 
schönes, doch tief betrübtes Antlitz. An den Brauen und Wimpern 
der Augen hingen kleine Tautropfen, die im Mondlichte glitzerten. 
Vorwurfsvoll sah die weiße Frau das Mlädchen an und lispelte: 
„Was störst du die Bleicherin im Mondenschein? Sieh, sieben Jahre 
muß ich nun wieder spinnen, weil du mir jenes Stück verderbt 
hast! Zur Strafe für deine Tat bliche dorthin und bess're dich, 
bess're dich!“ Dabei deutete sie auf den Teichdamm und verschwand. 
Regungslos hafteten die Augen des Mädchens an der bezeichneten 
Stelle. Bald öffnete sich dort ein Spalt im Boden und aus der 
Lücke drang heller Kerzenschein heraus. Das Mlädchen büchte sich 
und lugte neugierig hinein. Da sah sie in einer unterirdischen 
Grotte an einem Tische ihren verstorbenen Bater sitzen. Er blickte 
finster zu ihr auf und hob warnend den Finger gegen sie empor. 
Erschrochen wich sie zurüch. Seit jener Nacht war sie nie mehr zu 
bewegen, am Haarthteiche vorüberzugehen, wohl aber wollten andere 
die weitze Frau darauf mehrmals mitten auf dem Teiche haben 
sitzen sehen, wie sie emsig Flachs zu Garn spann und nur selten 
einen Seitenblich nach den furchtsamen Menschenkindern am Ufer 
warf. —
	        
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