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256. Der ewige Durst.
Gräße, Bd. II, Ar. 789.
Verfolgt man in Wilthen, zwei Stunden südlich von Bautzen,
den Fußweg, welcher hinter der Kirche über den Berg nach Bautzen
führt, so gewahrt man linker Hand unterhalb des Waldes einige
Wiesen mit einer Quelle. Dort zeigt sich zuweilen in den Mittags—
stunden eine weißgekleidete Frau, welche bis an die Quelle wallt
und sich bückt, um mit der Hand Wasser zu schöpfen. Aber wie
sie auch sich müht, sie kann das Wasser doch nicht erreichen und
tief seufzend entfernt sie sich wieder und verschwindet. Diese Er—
scheinung heißt: „Der ewige Durst.“ Alte Leute erzählen: Es habe
einst eine junge Frau in Wilthen während ihrer Aiederkunft un—
säglichen Durst gelitten und die Wehefrau gebeten, ihr zur Kühlung
nur einige Tropfen Wasser zu reichen. Aber die Kindfrau ver—
weigerte ihr die Labung, und so verschied sie unter den Qualen
eines verzehrenden Durstes. Seit dieser Zeit geht sie alle Mittage
an jene Quelle, will Wasser trinken — denn sie dürstet noch
immer — und kann doch das Wasser nicht erreichen, ein weiblicher
Tantalus mit hoffnungsloser Qual.
Etwas anders erzählt Dr. Haupt (bei Gräße) diese Sage: Zwischen
Irgersdorf und Wilthen liegt hart an der Straße ein quellender, mit
einem grünen Pflanzenteppiche bedechter Sumpf, der immer frisches
Wasser hat und niemals zufriert. Dorthin ist früher immer eine
weiße „wilde Frau“ allabendlich trinken gegangen. Sie kam vom
Pichow (7)-Berge herab und ging dann wieder auf dem Quersteige,
der von der Wilthener Seite bis auf die Spitze des Berges führt,
zurück, um daselbst auf einem Raine, der wie ein gemachtes Bette
gestaltet ist, zu übernachten. Oft hat man diese wilde Frau rufen
hören: „Ewiger Durst.“ Einst nötigte sie eine ihr begegnende Magd
sie zu kämmen und zu lausen und belohnte sie dann mit einer
Schürze voll trockenen Laubes, das die Magd leider wegwarf, denn
zu Hause angekommen, hatte sich ein am Schürzenband hängen ge-
bliebeenes Blatt in pures Gold verwandelt.