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sichtlich, magerte ab und gab fast gar keine Milch mehr. An Futter
und Pflege ließ er es nicht mangeln; so mußte der Grund in etwas
anderem liegen. Lange schon war es ihm und seiner Frau auffällig
gewesen, und sie hatten es nicht ohne Neid bemerkt, daß ihre Aach—
barin, eine alte Witwe, von der einzigen Kuh, welche dieselbe besaß,
so außerordentlich viel Milch erhielt. Die beiden Leute verwunderten
sich auch schon seit langem, daß im Stalle dieser Nachbarin stets
um die Mitternachtszeit Licht zu erblichken war. Eines Nachts legte
daher der Mann eine Leiter an, stieg hinauf bis zu der Lue, die
ihm einen Einblichk in den nachbarlichen Stall gestattete, und wartete
der Dinge, die da Kkommen sollten. Es war noch nicht ganz zwölf
Uhr nachts, als die Nachbarin mit einer Laterne in den Stall trat.
Sie hing die Leuchte an die Wand und setzte sich auf einen Schemel
mitten in den Raum, wo von der Deche ein Strick herabging. Als
die Mitternachtsstunde ertönte, nahm die Frau eine seitlich stehende
Gelte, klemmte sie zwischen die Schenkel und begann nun mit
beiden Händen an dem Strickende zu ziehen, als ob sie die
„Strichen“ einer Kuh melke. Wie erstaunte der am Stallfenster
lauschende Mann, als er ein Geräusch vernahm, wie es die beim
Melken in das Gefäß träufelnde Milch erzeugt. Es dauerte nicht
lange, so war der Milchbehälter voll Milch, ohne daß die Frau das
Euter ihrer Kuh berührt hatte. Sie verließ den Stall. Der Lauscher
eilte schnell in sein eigenes Gehöft, zündete Licht an und begab sich
nach seinem Stalle. Dort überzeugte er sich, daß seine Kuh bereits
ausgemolken war. Es unterlag Kkaum einem Zweifel; die Nachbarin
hatte durch Hexenkunst mittels des Striches seine Kuh aus der
Ferne gemolken. Sie mochte dies schon lange getan haben; daher
ihr Uberfluß drüben und der Mangel an Milch hüben. Der Mann,
dem dies widerfahren, kannte eine Frau aus Wilthen, welche der-
artige Zaubereien sollte unschädlich machen können. Er ließ dieselbe
zu sich bitten. Sie kam und sagte: „Wir wollen vorerst sehen,
wer euch die Kuh behext hat.“ Mittels Schlüsseldrehen wurde nun
die Ubeltäterin festgestellt. Dann erklärte die Frau: „Das werden
wir ändern. Wenn die böse Nachbarin einmal kommt (und das
wird gewiß geschehen), um bei euch irgend etwas — sei es auch
nur die geringste Kleinigkeit — zu borgen, so gebt ihr unter allen
Umständen nichts; gießet aber, während die Hexe noch in eurem
Hause verweilt, ein wenig Milch unter die Krippe eurer Kuh!“