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682. Sage von einem weißen Vogel.
Gräße, Bd. I, Ar. 690.
Es war einmal in einem Wald im Vogtland ein weißer
Vogel, nach dem schon viele Jäger vergeblich geschossen hatten;
keiner traf ihn. Die Bauern aber glaubten, der weiße Vogel be-
deute Unglüch, denn er hatte fast eine menschliche Stimme und
lachte alle Jäger aus und verspottete alle Vorübergehenden. Einst-
mals ging auch ein Jäger in den Wald, und mit einem Eifer ohne-
gleichen verfolgte er den weißen Vogel, indem er wohl hundertmal
nach ihm schoß. Der weiße Vogel aber flog von Baum zu Baum
und rief spottend herunter, daß es weithin schallte:
Es hat noch lange Reine Not,
Du hast vergebens mich bedroht,
Laufe dich nur nicht so gar sehr rot,
Geh heim, es wartet dein der Tod.
—
Unmutig Rehrte der Jäger dem Walde den Rücken, ging ins Dorf
zurück, legte sich aufs Bette und starb.
Nach einigen Jahren kam über die Gegend eine verheerende
Krankheit, die raffte so viel Leute weg, daß niemand mehr daran
dachte, in den Wald zu gehen und den weißen Vogel zu fangen.
Traurig flog dieser hin und her, bis er sich einmal bei einem Ge-
witter in den Kirchhof verirrte. Der Regen hatte sich verlaufen
und es ragte aus einem Grabe ein Schädel hervor, der war voll
MWasser, da flog der weiße Vogel hin, um daraus zu trinken. Das Erd-
reich aber war sehr locher, der Schädel fiel herab und bedeckte den
weißen Vogel. Diesem war es unter dem finsteren Dache gar un-
heimlich zumute und in wenigen Tagen starb er. Zuvor aber,
ehe er starb, sang er folgende Worte, die der Totengräber hörte,
ohne sich dieselben genügend deuten zu khönnen:
Da du lebtest, lebt' auch ich,
Du wolltest mich haben, bekamst mich nicht,
Aun bist du tot, nun hast du mich,
Doch ich muß sterben, was nützt es dich? —
Die Worte bezogen sich aber auf den Schädel des Jägers,
denn der lag hier begraben.