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710. Die unerlöste Jungfrau am Burgwartsberge bei
Pesterwitz.
Mitgeteilt von Max Naumann, Dresden.
Vor vielen Jahren durchwanderte um die Mittagsstunde ein
Jüngling den Wiesengrund am Burgwartsberge bei Pesterwitz, als
er durch den leisen Ruf: „Komm, holder Jüngling, erlöse mich!“
in seinem Weiterschreiten gestört wurde. Sofort eilte er dem Berge
zu und stand bald vor einer liebreizenden Jungfrau. Er war wie
geblendet von ihrer großen Schönheit. Das Staunen benahm ihm
die Sprache und er vermochte nur die Worte zu stammeln: „Was
soll ich tun, um dich zu besitzen?"" Da sprach die Jungfrau: „Du
sollst morgen um die selbe Stunde wieder an diesen Ort kommen
und mich dreimal Rüssen! Aber ich Komme nicht in meiner jetzigen
Gestalt, sondern bin verwandelt; du darfst dich deshalb nicht ent-
setzen, sondern mußt tun, wie ich dir geheißen. Du bist ein Glüchs-
kind, denn nur wenigen ist es beschieden, mich zu sehen, obgleich
viele den Weg wandeln.“
Sie ergriff des Jünglings Hand und ein warmer Strom ging
durch seine Adern. Da sprach sie wieder: „Es lohnt sich wohl,
meinen Wunsch zu erfüllen, denn schau! Alles, was du hier siehst,
ist dann dein.“" Bei den letzten Worten hatte sie sich an seine
Seite gestellt; da sah der FJüngling ein Tor, das in den Berg hin-
einführte und das sich geräuschlos geöffnet hatte. Ein seltener
Anblick bot sich ihm dar. Das Innere des Berges war mit Gold
wie beschüttet; die Wände schmüchkten edele Steine, die Geräte waren
von Gold und Elfenbein, in der Mltte aber stand ein Thron von
solch großer Schönheit, daß der Jüngling die Augen wie geblendet
beschatten mußte. Er wollte nach dem Eingange, aber erschrocken
riß ihn die zarte Jungfrau zurück und rief: „Du bist des Todes,
wenn du einen Schritt über die heilige Schwelle meines BReiches
tust!““ „Verzeih,“ sprach der Jüngling, „es war nicht Habsucht,
was mich veranlaßte in dein Reich einzutreten; nur der Glanz und
die Pracht hatten mich verwirrt.“ Lächelnd strich sie mit der Hand
über des Jünglings Scheitel und sprach: „Ich glaube dir, aber alle
Pracht wird dir erst morgen offenbart. Hinter dem Throne steht
eine Braupfanne, angefüllt mit Gold, und diese ist das Verderben
des Bösewichtes, der ohne bestandene Prüfung oder aus Habsucht,