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Gestalt wieder an der Stelle und rief: „Komm, holder Jüngling,
erlöse mich!“ Er versuchte wieder wie am gestrigen Tage mit
wenigen Schritten den Platz zu erreichen, aber die Füße waren
wie an den Boden geheftet, und das Strauchwerk, das er vordem
übersprungen hatte, setzte sich heute seinem Lauf als ein Hemmnis
entgegen. Es hing an seinen Kleidern und er verfing sich darin
mit seinen Füßen, so daß er oft strauchelte; aber immer wieder sah
er durch die grünen Blätter das weiße Rleid, und unaufhaltsam
drang er bis zu der Stelle vor. Aber was bot sich seinen Blichen?
Wo eben noch die holde Schönheit gestanden hatte, saß eine große
abschrechend häßliche Kröte, die ihre glühenden Augen auf ihn heftete
und den Mund weit öffnete. Er taumelte zurück und lehnte sich
an einen nahen Baum; Schweiß rann an seinen Gliedern nieder,
die Arme hingen ihm schlaff am Körper herab; er schien wie ge-
lähmt. Da klang es wieder durch die Zweige: „Komm, erlöse mich!“
Er ging wieder auf die unförmliche Gestalt zu und wollte mit
schnellem Entschluß der Kröte die drei Küsse aufdrücken, aber wieder
öffnete diese das breite Maul, und ein pestialischer Gestank drang
ihm entgegen, der ihm die Sinne zu benehmen schien; wieder
lehnte er sich an den Baum, aber wieder rief es: „Komm, erlöse
mich!“ Nochmals nahm er alle Kraft zusammen und schritt wieder
vor, aber das Tier schien gewachsen zu sein; es hatte sich empor-
gerichtet, um ihn zu empfangen. Er sah am Leibe die widerlichen
gelben und braunen Fleche, zwischen den Lippen entströmte heißer
und stinkender Brodem, und zum Uberfluß stieß sie jetzt noch Töne
aus, die ihn erbeben machten.
Sein Mut war gebrochen. Er wandte seine Schritte berg-
abwärts; seinen Körper schüttelte der Frost. Er war wie gebrochen
und mußte sich am Fuße des Berges auf einen Stein setzen. Da
erklang wieder die GElocke, die die erste Stunde verkündete; wieder
hörte er aus dem Berge das helle Glöchkchen. Seine Augen streiften
unwillkürlich die verhängnisvolle Stelle. Da stand noch einmal
die schöne Jungfrau in ihrer ganzen Pracht. Er strechte die Arme
sehnsüchtig aus, um zu ihr zu eilen, aber sie rief: „Du hast dein
Glück verwirkt; nun muß ich wieder dreihundert Jahre schlafen!“