Full text: Sagenbuch des Königreichs Sachsen

— 571 — 
Gestalt wieder an der Stelle und rief: „Komm, holder Jüngling, 
erlöse mich!“ Er versuchte wieder wie am gestrigen Tage mit 
wenigen Schritten den Platz zu erreichen, aber die Füße waren 
wie an den Boden geheftet, und das Strauchwerk, das er vordem 
übersprungen hatte, setzte sich heute seinem Lauf als ein Hemmnis 
entgegen. Es hing an seinen Kleidern und er verfing sich darin 
mit seinen Füßen, so daß er oft strauchelte; aber immer wieder sah 
er durch die grünen Blätter das weiße Rleid, und unaufhaltsam 
drang er bis zu der Stelle vor. Aber was bot sich seinen Blichen? 
Wo eben noch die holde Schönheit gestanden hatte, saß eine große 
abschrechend häßliche Kröte, die ihre glühenden Augen auf ihn heftete 
und den Mund weit öffnete. Er taumelte zurück und lehnte sich 
an einen nahen Baum; Schweiß rann an seinen Gliedern nieder, 
die Arme hingen ihm schlaff am Körper herab; er schien wie ge- 
lähmt. Da klang es wieder durch die Zweige: „Komm, erlöse mich!“ 
Er ging wieder auf die unförmliche Gestalt zu und wollte mit 
schnellem Entschluß der Kröte die drei Küsse aufdrücken, aber wieder 
öffnete diese das breite Maul, und ein pestialischer Gestank drang 
ihm entgegen, der ihm die Sinne zu benehmen schien; wieder 
lehnte er sich an den Baum, aber wieder rief es: „Komm, erlöse 
mich!“ Nochmals nahm er alle Kraft zusammen und schritt wieder 
vor, aber das Tier schien gewachsen zu sein; es hatte sich empor- 
gerichtet, um ihn zu empfangen. Er sah am Leibe die widerlichen 
gelben und braunen Fleche, zwischen den Lippen entströmte heißer 
und stinkender Brodem, und zum Uberfluß stieß sie jetzt noch Töne 
aus, die ihn erbeben machten. 
Sein Mut war gebrochen. Er wandte seine Schritte berg- 
abwärts; seinen Körper schüttelte der Frost. Er war wie gebrochen 
und mußte sich am Fuße des Berges auf einen Stein setzen. Da 
erklang wieder die GElocke, die die erste Stunde verkündete; wieder 
hörte er aus dem Berge das helle Glöchkchen. Seine Augen streiften 
unwillkürlich die verhängnisvolle Stelle. Da stand noch einmal 
die schöne Jungfrau in ihrer ganzen Pracht. Er strechte die Arme 
sehnsüchtig aus, um zu ihr zu eilen, aber sie rief: „Du hast dein 
Glück verwirkt; nun muß ich wieder dreihundert Jahre schlafen!“
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.