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den Saum ihres Kleides und endlich ihre Lilienhand küssen zu
dürfen. Vor Liebe errötend drückt sie ihm die Hand und läßt ihn
gewähren, selbst einen Kuß weist sie nicht zurück. Auf seine Frage,
ob er die Verirrte heimgeleiten dürfe, sagt sie mit Silberglockentone:
„Die Schluchten kenne ich in der Runde. Ich will ein Größeres:
— noch größer ist dein Lohn. Du hast gebeichtet und willst das
Heiligste empfangen: — Bewahre mir die Hostie. Es schwellt die
Brust mir gläubiges Verlangen, o, bringe mir das Mahl, das all—
versöhnende.“ — Der erschrockene Meister soll im Abendrote zurück—
kommen, ein rotes Tuch unter einen Baum breiten, dort knien,
und wenn sie kommt und anbetet, ihr das Brot spenden. „Doch
zage nicht, wenn du Ungewohntes siehst, sonst sind wir beide ver—
loren.“ — Alles will er ihr tun, nur nicht das Heiligste schänden. Doch
zwei große Tränen bewegen ihn, daß er forteilt und ihr Verlangen
erfüllt. Als er zurückkommt und kniet, erscheint plötzlich ein schreck—
liches Wesen, halb Tier, halb Mensch; ihre Arme sind Tigerklauen
— sie ist wegen Muttermordes verdammt. Der bestürzte Meister
zermalmt bewußtlos das heilige Brot und will fliehen, fällt aber
mit einem Aufschrei zu Boden. Da öffnet sich plötzlich die Erde,
Flammen dringen hervor, und das Unbild wird verschlungen.
Zwei Stunden lag der Meister bewußtlos; als er erwachte,
umfing ihn Wahnsinn, und er starb später mit einem letzten Auf-
blick zum Liliensteine.
Die folgende Sage ist nur eine Variante.
720. Die Schloßjungfrau zu Schandau.“ ·0
G. Müller in „Bunte Bilder aus dem Sachsenlande“, 2. Aufl. 1892,
S. 114 ff.
Auf dem Schloßberge bei Schandau befindet sich neben an-
deren Resten einer ehemaligen Burg auch eine von Geröll schon
zum Teil ausgefüllte Vertiefung, der Schloßbrunnen, von dem unter
dem Volke eine gar wunderliche Sage geht. Man erzählt sich
nämlich:
* Val. die vorhergehende Sage.
Meiche, Sagenbuch. 37