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Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal in Schandau ein blut—
armer aber frommer Schneidergeselle. Er war meist allein, denn
das wilde Treiben seiner Mitgesellen behagte ihm nicht. Die Schank—
häuser besuchte er nur selten. Wohl aber ging er jeden Sonntag
zur Kirche, und nach dem Gottesdienste stieg er bei günstigem
Wetter in die schönen Berge.
So kam er einst an einem herrlichen Märztage, es war just
Sonntag Judica, aus der Aachmittagspredigt und ging auf den
Schloßberg spazieren. Rings um ihn sproßte und jubelte der Lenz.
Unbemerkt war unser Schneider auf die Höhe des Kiefericht und
in die Nähe des Schloßbrunnens gekommen. Er setzte sich dort
gedankenvoll am Berghange nieder und blickte nach den fernen
blauen Bergen und dem silberglänzenden Elbstrome im Tale. Da
trat plötzlich aus dem Gebüsch zu seiner Seite eine hochgewachsene
Frauengestalt in altertümlicher Tracht hervor. Langsam schritt sie
auf den bestürzten Schneidergesellen zu, der mit Verwunderung die
seltsame Erscheinung anstarrte. Bei allem Schreck war er dennoch
im Innern still beglückt; denn er glaubte, noch nie etwas Schöneres
gesehen zu haben. Tiefe Trauer prägte sich auf ihrem Antlitze aus,
und doch leuchteten ihre Augen hoffnungsfreudig auf, als sie zu
dem Gesellen sprach: „Fürchte dich nicht; ich bin das Schloßfräulein.
Schon lange habe ich dich beobachtet, wenn du meinen Berg be-
stiegen hast. Ich weiß, wie fromm und gut du bist. Aur darum,
und weil du ein Sonntagskind, Bhannst du mich sehen. Ehe ich
aber weiter zu dir spreche, gelobe mir, keiner Menschenseele zu ver-
raten, was du hier hören wirst.“
Der Schneider konnte vor Angst und Erstaunen nur stam-
meln, daß er gegen jedermann schweigen wolle. Darauf fuhr die
Schloßjungfrau fort:
„Dich hat mir Gott gesendet, denn du kannst mich erlösen.
Schon seit 500 Jahren muß ich hier verzaubert für die Sünden
meiner Vorfahren büßen. Aur aller 500 Jahre kommt der Tag,
an dem ich gerettet werden hann, und zwar durch einen frommen
Jüngling. So du den Fluch von mir nehmen willst, Komme über
zwölf Tage, mittags 12 Uhr, wieder hierher. Beichte aber vorher
deine Sünden. Ich werde dir dann wieder erscheinen, freilich in
anderer Gestalt. So schrecklich ich dir dann auch vorkommen mag,
laß dir nur nicht grauen, sondern Rüsse mich dreimal brünstig auf