Full text: Sagenbuch des Königreichs Sachsen

4. Das Gesicht des Rittergutspächters zu Leuben. 
Gräße, Bd. I, Ar. 330; Sickel, a. a. O. Teil II, S. 71 ff. 
In dem zweiten Biertel des 18. Jahrhunderts machte eines 
Morgens um 6 Uhr der Pächter des Rittergutes Leuben bei Oschatz 
nach seiner Gewohnheit aus dem Herrenhofe, der ringsherum mit einem 
starkemn Wassergraben versehen war, einen Spaziergang durch die da- 
selbst befindliche anmutige Baumallee über die nach der linken Seite 
hin gelegene Wiese bis zu einem schmalen Stege, welcher sich über dem 
nach dem Dorfe führenden Wassergraben befand und ohngefähr einen 
Büchsenschuß vom Mittergut entfernt war. Da erblickt er nicht gar 
weit davon ein ihm nach dem Stege zu entgegenkommendes Frauen- 
zimmer von feiner Gestalt, etwas hagerer, langer Statur und dabei 
in einer ihm wohlbekannten Kleidung. Er eilt ihr also entgegen, 
weil er nach allen Umständen es für gewiß hielt, daß diese seine in 
der Stadt Mühlberg an einen dasigen Gelehrten verheiratete Tochter 
sei. Er schlug demnach vor Freuden in die Hände, und rief ihr 
zu: wo kömmst du her, liebe Tochter? Sie lächelte ihn gleichfalls 
mit freudiger Miene an, gab aber Reine Antwort von sich. Indem 
er nun über den schmalen Steg geht, ihr die Hand zu reichen, und 
sie über denselben zu führen gedachte, weil es eben geregnet hatte 
und auf dem Wege noch glatt war, verschwand sie, ehe er noch über 
den Steg gelangte, vor seinen Augen, worüber er auf einmal 
traurig ward, nach Hause eilte und den Seinigen mit bekümmerter 
Miene das Vorgefallene erzählte. Weil er nun glaubte, daß seine 
Tochter wahrscheinlich Krank darniederliege, ruhte er nicht eher, als 
bis er am folgenden Tage nach Mühlberg reiste und sich selbst von 
ihrem Befinden überzeugen konnte. Als er aber bei ihr anlangte, 
fand er sie gesund und wohl, sie sagte indes, als er ihr erzählte, 
was ihm auf dem genannten Wege begegnet sei, sie habe gestern 
morgen gerade recht fleißig an ihn gedacht und sich nach Hause 
gesehnt. Darauf hat er sie von da abgeholt und mit nach Hause ge- 
nommen. Die wunderbare Bision aber hat obgedachter Hauslehrer 
Sichel aus seinem eigenen Munde gehört.
	        
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