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— ihre Wohlgerüche, denen die lieblichsten Blumendüfte weder in
der Alten noch Neuen Welt gleichen. Keines Sterblichen Auge hat
je ihre Wurzel erblickt. Im Jahre 1590, als der Löbauer Rats—
förster Kajetan Schreier auf gedachtem Berge einen Rehbock blattete,
empfanden seine Geruchswerkzeuge jenes wunderliebliche Duften,
dessen Ursache er sich nicht zu erklären vermochte, und da der Duft,
den der Wind ihm zuwehte, immer stärker wurde, ging er, den
Rehbock vergessend, einige Schritte vorwärts. Allein sonderbar, der
jeden Schritt und jedes Strauchwerk daselbst kennende Weidmann
ging irre und drehte sich in einem Kreise, bis endlich sein Ohr eine
sanfte, Aolsharfen- oder Harmonikatönen ähnliche Musik vernahm
und er die Wunderblume von magischem Lichte erleuchtet erblickte.
Er wußte nicht, was ihm geschah, blieb unentschlossen, ob er hören,
sehen, riechen oder die Blume brechen sollte, seine Sinne schwanden,
Um in kRurzer Zeit wieder zu himmlischem Genuß zu erwachen. So
stand er zweifelhaft — da verkündete der Seigerschlag in Löbau
die zwölfte Mitternachtsstunde — es blitzte, ein Krach erscholl, und
die Blume war verschwunden. Aun wußte der Jäger, was er hätte
tun sollen, um sich in den Besitz dieses Kleinods zu setzen. Aun
erst, aber zu spät, eilte er an den Ort, wo die Blume gestanden,
gewahrte aber Rkeine Spur mehr davon, wohl aber wehte der Rühle
Morgenwind einen Zettel von schwarzem Pergament, der folgende
mit goldener Mönchsschrift geschriebene Worte: Mortalis immaculati
Cordis, qdui tempore floris mei fortuito huc venit casu, carpere
me potest et uti bonis, quae praebeo, sin minus, fugiat longes
enthielt, dem Betäubten zu.
Eine alte, unleserliche Handschrift, die noch anfangs des
18. Jahrhunderts mit dem Pergamentzettel in Urschrift, nebst einer ge-
richtlich aufgenommenen Megistratur über die Aussage des Försters,
auf der Löbauer Ratsbibliothek vorgezeigt wurde, enthielt folgendes
„Blühet in dem Gärtlein uf dem Löbawer Berge, allein nur
aller hundert Johr, gar in der Mitternachts Stund von St. Joannis
Enthäubtung gar ein wunderseltsam Blühmlein, von anmuthiger
* Der Löbauer Rektor M. Martin Boreckh, 1571, hat dieses Latein
folgendermaßen übertragen: Der Sterbliche von reiner Seele, der zu meiner
Blütenzeit von ohngefähr hierherkommt, Rkann mich brechen und das GElüch,
das ich ihm gewähre, genießen (der Schluß fehlt: wo nicht, so fliehe er so
weit er Rann).