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Aus der alten Verfassung ist in die gegenwärtige die sogenannte
Entscheidungsdeputation, ein für den einzelnen Fall durch das Los
bestimmter Ausschuß aus Senat und Bürgerschaft, übernommen. Die
Entscheidung reiner Rechtsfragen dagegen ist in der neuen Verfassung
— im Gegensatz zu der alten — einem Gerichtshof übertragen, dem
Oberappellationsgericht der freien Städte, an dessen Stelle später das
Reichsgericht trat.? Außerdem ist noch in der neuen Verfassung ein
sich an die Praxis zur Zeit der alten Verfassung anlehnendes, jetzt
Städten, wie in anderen Staaten, ein Konflikt thunlichst vermieden oder beigelegt
werden. Richtig ist es freilich, wenn Wolffson (a. a. O., S. 20) hervorhebt, daß
die sonst in konstitutionellen Staaten gegebenen Mittel einer Auflösung des Re-
präsentativkörpers oder eines Rücktritts der Regierung in den freien Städten nicht
möglich seien; doch hat die Erfahrung, z. B. in Preußen und in Dänemark,
gezeigt, daß auch diese Mittel bei einem ernsteren Konflikt leicht versagen, — es sei
denn, daß, wie in England, schließlich die Volksvertretung (nach dem Princip des
Parlamentarismus) der ausschlaggebende Faktor ist. Die Sache liegt also in den
freien Städten nicht so wesentlich anders als in anderen Staaten.
1 Uber die Entscheidungsdeputation der alten Verfassung vgl. Westphalen,
a. a. O., Bd. 1. S. 175 ff. — Nach der Konstituantenverfassung von 1849
(Art. 75 ff.) sollte dem Rat der allein gesetzgebenden Bürgerschaft gegenüber nur
ein suspensives Veto zustehen, das unter bestimmten Voraussetzungen durch einen
wiederholten Beschluß der Bürgerschaft beseitigt werden konnte. (In der Bremer
Verfassung von 1849 hieß es (8 6): „Können Senat und Bürge schaft bei Aus-
übung ihrer gemeinschaftlichen Wirksamkeit hinsichtlich der Zweckmäßigkeit einer
das öffentliche Wohl betreffenden Maßregel zu einem übereinstimmenden Beschlusse
nicht gelangen, so wird dieser Gegenstand an die Gesamtheit der Staatsbürger
zur Entscheidung verwiesen.“) Nach den ersten von der sog. Neunerkommission
aufgestellten Entwürfen der neuen hamburgischen Verfassung sollte bei Dissensen
zwischen Senat und Bürgerschaft in erster Linie die — nach voraufgegangener
Auflösung (sei es durch den Senat, sei es durch sich selbst) neu zusammentretende
— Bürgerschaft entscheiden.
Eine analoge richterliche resp. schiedsrichterliche Entscheidung rechtlicher
Kontroversen zwischen Regierung und Volksvertretung ist auch in anderen Staaten
vorgesehen. So, abgesehen von Lübeck und Bremen, in Sachsen (Verf. § 142
und 153), Oldenburg (Staatsgrundgesetz Art. 209), Braunschweig (Neue
Landschaftsordnung § 231), Sachsen-Altenburg (Grundgesetz § 266.)
Im Art. 76, Abs. 2 der Reichsver fassung heißt es: „Verfassungs-
streitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde zur
Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, hat auf Anrufen eines Teiles der
Bundesrat gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der
Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen.“ Diese Bestimmung ist dem Obigen
nach auf Hamburg nicht anwendbar.
v. Melle, Hamburg. Staatsrecht. 12