Full text: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Erster Teil. (1)

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ist gleichbedeutend mit der Vernichtung der habsbur- 
gischen Monarchie, zumal ihre Lenker sich sagen muß- 
ten, daß eine Niederlage durch Rußland und seine 
Verbündeten auch zum Verlust Galiziens und der 
Bukowina und bei einer Zugesellung Rumäniens zu 
den Gegnern auch zur Abtrennung Siebenbürgens 
führen mußte. Eine Einigung der Falkanvöllel un- 
ter Rußlands Führung ist Osterreich-Ungarns Tod. 
Die Donaumonarchie kann wohl unabhängige Bal- 
kanstaaten neben sich dulden, nicht aber Rußlands 
Herrschaft auf der Halbinsel. 
Das gleiche aber gilt von Deutschland. Die Russen 
reden gern von seinem schnöden Undank. Rußland 
hat die Begründung der deutschen Einheit nicht unter- 
stützt; es hat sie zugelassen. Es kann sagen, daß es 
in der Lage gewesen wäre, sie zu hindern; es hat in 
ewissen Kreisen auch an Stimmung dazu nicht ge- 
fehlt. Wenn es nicht geschehen ist, so ist es doch unter- 
lassen worden, nicht weil man für das deutsche Volk 
empfand und ihm wohlwollte, sondern weil die über- 
wiegende Meinung war, daß es dem eigenen Vorteil 
entspreche. Man hoffte und erwartete von Deutsch- 
land Förderung in den Bestrebungen gegen die Tür- 
kei, denen sich die Westmächte, und ganz besonders 
England, so oft, und zuletzt noch im Krimkriege mit 
demütigendem Erfolge, widersetzt hatten. Im Pariser 
Frieden war Rußland untersagt worden, eine Flotte 
im Schwarzen Meer zu unterhalten= eine Beschrän- 
kung, von der es sich nur mit Deutschlands nachdrück- 
licher Unterstützung gegen Ende des deutsch-franzö- 
sischen Krieges hat frei machen können. Deutschland 
ist der russischen Orientpolitik auch niemals in den 
Weg getreten; es hat unter Fürst Bismarcks Leitung 
treu festgehalten an der Auffassung, die mit dem ge- 
flügelten Wort von den Hüochen des pommerschen 
Musketiers gekennzeichnet ist, hat im Kriege von 
1877/78 Rußland geradezu begünstigt. Aber als 
unser Reichskanzler nach dem Frieden von San Ste- 
fano auf dem Berliner Kongreß den zehrlichen Mak- 
lere machen mußte, ward ihm von russischer Seite, 
nicht unbeeinflußt von persönlicher Eifersucht des lei- 
tenden Ministers Gortschakow, die Schuld *7 eschoben 
dafür, daß Rußland unter dem Dru Englends 
und Osterreichs von den harten, der Türkei auferleg- 
ten Friedensbedingungen so beträchtlich nachlassen 
mußte. Es hatte schon früher begonnen, sich Frank- 
reich zu nähern; jetzt wandte es sich so offensichtlich 
von Deutschland ab, daß Fürst Bismarck sich genötigt 
sah, im nächsten Jahre das Bündnis mit Osterreich 
zu schließen, das dieses gegen russische, jenes gegen 
russisch-französische Gefahr zu decken bestimmt war. 
Es ist der Beginn eines Zusammenschlusses der Mitte 
Europas gegen die beiden gewaltigen Militärmächte im 
Osten und Westen, der die politische Gruppierung des 
Erdteils bis zum Ausbruch des gegenwärtigen Krie- 
ges Überwiegend bestimmt hat. Parallel mit ihm geht 
die immer größere Annäherung Rußlands an Frank- 
reich. Auch nach dem Abkommen von 1879 hat 
Deutschland sich noch nicht veranlaßt gesehen, Oster- 
reichs Wünsche für die Gestaltung des Balkans unter 
allen Umständen gegenüber Rußland zu vertreten, 
jedenfalls so lange nicht, wie Fürst Bismarck am Ru- 
der war. Nach seiner Entlassung ist aber der soge- 
nannte Rückversicherungsvertrag mit Rußland, der 
die Verpflichtung der Unterstützung bei einem öster- 
reichischen Angriff auf diesen Staat für Deutschland, 
bei einem französischen auf Deutschland für Rußland 
aufhob, nicht wieder erneuert worden; das System 
I. Politik und Geschichte 
war Caprivi zu kompliziert. Eine Abwendung 
Deutschlands von Rußland wurde in den nächsten 
Jahren unverkennbar. Versuche, das Dreikaiser- 
bündnis, auf das Bismarck nach 1870 seine Politik 
zunächst gestügzt. und das er auch in der Zeit der auf- 
ommenden Verstimmung zu erhalten bemüht ge- 
wesen war, wieder zum Leben zu erwecken, sind nicht 
mehr gemacht worden. So mußte Deutschland bei der 
steigenden Spannung zwischen Nußland und Oster- 
reich-Ungarn immer mehr auf die Seite der Donau- 
monarchie gedrängt werden. Als 1908 die türkische 
Revolution mit der Einführung einer Verfassung für 
das national und konfessionell so bunt zusammen- 
esetzte Osmanenreich endigte und ÖOsterreich-Ungarn 
6äq veranlaßt fand, die Okkupation Bosniens und 
der Herzegowina in eine Annexion zu verwandeln, 
wurde es dem russischen Einspruch gegenüber durch 
Deutschland gedeckt. Ohne dessen in Petersburg ab- 
gegebene deutliche Erklärung wäre der Zar wohl 
schon damals gegen Habsburg vorgegangen. 
V. Frankreich und Gngland. 
So hat sich die Lage entwickelt, in der Rußland, 
das seit Napoleons Angriff gewohnt gewesen war, 
je nachdem Preußen und Deutschland zu helfen oder 
sich auf sie zu stützen, in der neuen mitteleuropäischen 
Macht das schwierigste Hindernis zu erblicken anfing. 
das altliberlieferten Wünschen, denen es nicht ent- 
sagen wollte und nicht entsagen zu können glaubte, 
im Wege stand. Deutschland war der Block geworden, 
der hinweggeräumt werden mußte, ehe die Sieges- 
fahrt nach Konstantinopel angetreten werden konnte. 
Das war für Deutschland ein um so gefährlicheres 
Ergebnis, als Leichzeitig derselbe Stand der Dinge 
gegenuber den Westmächten sich klar herausbildete. 
luch Frankreich und England sahen in Deutschland 
das Hindernis, das es ihnen unmöglich machte, die 
Ziele zu erreichen, hinter denen sie im Interesse ihrer 
Machtstellung nicht glaubten zurückbleiben zu dürfen. 
Die drei kriegsgewaltigsten Reiche des Erdballs fühl- 
ten sich einig in dem Wunsche, Deutschlands Einfluß 
einzuengen; sie gewöhnten sich, das als eine unerläß- 
liche Vorbedingung ihrer eigenen Größe anzusehen. 
Durch all die Jahrhunderte seit der Entdeckungszeit 
sind England und Frankreich in ihren kolonialen Be- 
strebungen Gegner gewesen. Frankreich war zuerst 
auf den Plan getreten; es hat überseeische Gebiete 
zu besetzen vessach und tatsächlich gewonnen, ehe 
Englands Regierung an solche Erwerbungen dachte. 
Als auch sie im 17. Bohrhundert in diese Bewegung 
eintrat, entwickelten sich bald Feindschaften. Die eng- 
lisch-fran zösischen Kriege sind dann immer auch Ko- 
lonial- und Handelskriege gewesen und meistens ge- 
rade das. Insbesondere in Nordamerik. in Vorder- 
und Westindien haben sich die Rivalen gegenüber- 
gestanden. Die französische Revolution und Napoleon 
tragen die Schuld, daß Frankreich in diesem Ringen 
völlig unterlag. Im letzten voraufgehenden Zusam- 
menstoß im Anschluß an den nordamerikanischen 
Freiheitskrieg hatte es nicht schlecht abgeschnitten. Die 
Jahre, welche folgten, bedeuten den Tiefstand eng- 
lischer Kolonialmacht und Seeherrschaft. 
Als Frankreich sich kaum erholt hatte, setzte der 
Wettbewerb neu ein. Noch unter der Restauration 
ging es nach Algier; unter Louis Philipp begann es 
im Stillen Ozean Stützpunkte zu gewinnen; unter 
Napoleon III. trat es nachdrücklich in Hinterindien 
auf. Während all dieser Zeit war es bemüht, in