Full text: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Erster Teil. (1)

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asiatischen Fragen Platz. Was die alten Gegner zu- 
ammenführte, war das Eindringen deutschen Ein- 
Fuee in die Türkei, die Erschließung ihres anatoli- 
chen und weiter ihres mesopotamischen Besitzes durch 
deutsche Unternehmungen, die zu dem Ergebnis zu 
führen schienen, daß zwischen englischem und ruffi 
schem Machtbereich hindurch die nächste Verbindungs- 
linie zwischen Indien und Europa unter deutsche Ver- 
fügung kam. England verließ die Bahnen mehr- 
undertjähriger Türkenfreundschaft und glaubte die 
Leitung der islamitischen Welt selbst in die Hand 
nehmen zu sollen. 1905 hatte sein Ministerpräsident 
Balfour davon gesprochen, daß von Korea bis Ma- 
rokko sich über drei Weltteile hin eine Reihe von Staa- 
ten erstrecke, die Schwierigkeiten zwischen den zivili- 
sierten Mächten verursachen könntene. Er nannite sie 
„ politische Depressionsgebiete, die unvermeidlich ein 
Einströmen von außen her veranlassene. Dieses Ein- 
trömen ist seitdem so gut wie restlos erfolgt, ohne 
aß Deutschland daran beteiligt gewesen wäre. Eng- 
land und Frankreich, Rußland und Japan sind die 
Gewinnenden gewesen. England hat fortgesetzt die 
Miene des freundlichen Gönners gezeigt; nur ver- 
einzelt, wie in der letzten Marokkokrisis, kam das böse 
Gesicht zum Vorschein, das hinter der gleisnerischen 
Maske steckte. Die Leiter unserer Politik haben ge- 
glaubt, es nicht beachten zu sollen. Sie waren nur 
von einem Gedanken erfüllt: Frieden, so lange er 
irgend erhalten werden kann! Es mußten erst Mord- 
buben kommen und die Völker, die sich für Träger 
und Führer aller Kultur ausgeben, die es wagen, 
uns Barbaren zu schimpfen, sich zu ihren Beschützern 
aufwerfen, ehe es jedermann klar wurde, daß der 
lang geschürzte Knoten nicht mehr aufgelöst, daß er 
nur noch zerhauen werden konnte. 
Die Lage ist offenkundig. Rußland fand es un- 
vereinbar mit seinem Ansehen auf dem Balkan, Ser- 
bien sich vor Osterreich-Ungarn beugen zu lassen. Daß 
I. Politik und Geschichte 
Frankreichs Gewehre von selber losgehen würden, 
wenn Rußland gegen uns in die Waffen trat, war welt- 
bekannt. England aber glaubte den Augenblick nutzen 
u sollen, deutschem Wettbewerb für lange Zeit ein 
nde zu machen. Ruhige überlegung mußte ihm zwar 
sagen, daß eine völlige Niederwerfung Deutschlands 
und OÖsterreich-Ungarns einen gewaltigen Zuwachs 
russischer Macht bedeute. So ist Greys Außerung 
aufzufassen, daß England Deutschland noch einmal 
habe nützlich werden können;jer durfte doch nicht sagen, 
daß England Deutschland noch einmal brauchen 
könne. Die Leiter der englischen Politik meinten, im 
rechten Augenblicke Einhalt tun, die zukünftige Ver- 
teilung der Macht bestimmen zu können. So griffen 
sie den Bruch der belgischen Neutralität als erwünsch- 
ten Vorwand auf. Sie und ihre Bundesgenossen 
täuschten sich über unsere Kraft; über unsere inneren 
Verhältnisse glaubten sie das, was ihren Wünschen 
entsprach. Wie hätten nicht auch Zweifel aufkommen 
sollen über unsere Waffentüchtigkeit, zumal die Fach- 
männer aller drei Mächte sie oft genug mäkelnd herab- 
esetzt haben? Was wir seit Kriegsbeginn erleben, 
sirinen uns wieder einmal die Wahrheit ein, die in 
ergessenheit zu geraten drohte, daß Glück und Wohl- 
fahrt der Staaten und Völker aufihrer Macht beruhen. 
daß ihre Anpassungsfähigkeit an die Schlagworte des 
Kosmopolitismus, der Humanität, der Kultur neben- 
sächlich sind, daß geistige und sittliche Kraft, unerläß- 
lich für den Bestand jeder Gesamtheit, sich nicht reiner, 
nicht größer, nicht würdiger betätigen und offenbaren 
können als in der vollen, selbstlosen Hingabe an den 
Staat. Mit ihr ist auch der Menschheit weitaus am 
besten gedient, denn der deutsche Staat ist erfüllt und 
wird erfüllt sein vom deutschen Geist, einem Geist der 
Zucht und Sitte, der Duldung und Anerkennung auch 
für andere, nicht ein Geist der Herrschsucht, der Hab- 
gier, der Rache, sondern des gleichen Rechts für alle 
und der friedlichen, wetteifernden Betätigung. 
Der Dreibund 
von Oberstudienrat Dr. Gottlob Egelhaaf in Stuttgart 
Aus dem französischen Krieg 1870/71 ging Bismarck 
mit der Überzeugung hervor, daß Deutschland auf 
lange hinaus mit Frankreichs Rachedurst rechnen und 
sich gegen die von Westen drohende Gefahr jederzeit ge- 
deckt halten müsse. Die stärkste Wehr schien ihm in un- 
serer militärischen Kraft zu liegen, an deren Stärkung 
er deshalb unausgesetzt arbeitete. Dann aber galt es, 
Frankreich in Vereinzelung zu erhalten und es so ohn- 
mächtig zur Rache zu machen. Bismarck hat wohl auch 
ernsthaft versucht, der großen und reizbaren Nation 
andere Betätigungsfelder zu eröffnen, sie durch Ent- 
wicklung ihrer überseeischen Machtstellung von dem 
Starren nach dem Loch in den Vegesen- abzulenken 
und so vielleicht ein Verharschen der Wunde von 1870 
herbeizuführen; er hat Frankreich nach dem Zeugnis 
des französischen Staatsmannes Jules Ferry und 
seines Historikers Alfred Rambaud weder in Tunis, 
noch auf Madagaskar, noch in Hinterindien irgend- 
welche Schwierigkeiten bereitet, ja der französischen 
Politik in jenen Gegenden sogar Förderung zuteil 
werden lassen. Aber Heine Bestrebungen stießen schließ- 
lich doch auf unbezwingliche Hindernisse; der Haß der 
Franzosen gegen Deutschland war stärker als alle real- 
politischen Erwägungen, und Frankreichs Bereitschaft, 
uns bei sich bietender Gelegenheit an zufallen, mußte 
als unabänderliche Tatsache in unsere Berechnungen 
eingestellt werden. So versuchte Bismarck die Deussch- 
land benachbarten Kaisermächte Rußland und Öster- 
reich, deren Politik wesentlich konservativ war, durch 
das gemeinsame monarchische Interesse mit Deutsch- 
land zu verknüpfen. Am 5. und 6. September 1872 
kamen die drei Kaiser in Berlin zusammen, und es 
bildete sich das Dreikaiserverhältnis, wie einst die 
Heilige Allianz, ebenfalls mit der Spitze gegen Frank- 
reich, bestanden hatte. Aber schon seit der Mitte des 
achten Jahrzehnts des Jahrhunderts begann sich das 
Dreikaiserverhältnis allmählich zu zersetzen. Es gab 
in Rußland eine an Einfluß beständig zunehmende 
Partei, die es für einen großen Fehler ansah, daß man 
1870—71 der Niederwerfung Frankreichs Vorschub 
geleistethabe, und als infolge der fieberhaften fran- 
zösischen Rüstungen 1875 eine Spannung zwischen 
Deutschland und Frankreich entstand, welche die Ge- 
fahr eines kriegerischen Zusammenstoßes nahe rückte, 
nahm der russische Minister des Auswärtigen, Fürst