Full text: Preußisches Verwaltungsrecht.

288 Besonderer Teil. 
zutreffen, ist eine Frage, die sich nur je nach den Umständen des Einzelfalls 
beantworten läßt und die für Straßen und Plätze in einer besonders bevor- 
zugten Lage der Reichshauptstadt nach höheren als den für entlegene kleine 
Orte ausreichenden Anforderungen beantwortet werden muß. Im vorliegen- 
den Falle hegt der erkennende Senat nach der persönlichen Kenntnis seiner 
Mitglieder von der Ortlichkeit und den Verhältnissen keinen Zweifel, daß 
sowohl der im Zuge der Königgrätzerstraße nach dem Tierzarten sich öf nende 
Platz vor dem Brandenburger Tore wie auch der Pariser Platz durch Er- 
richtung der vom Kläger geplanten Mietskaserne auf das gröbste verunstaltet 
werden würde. Denn dieses Gebäude würde mit seiner Fronthöhe das von 
ihm nur durch das schmale Militärwachtgebäude getrennte Brandenburger 
Tor — ein Monumentalwerk, das großen vaterländischen Erinneruengen ge- 
weiht ist — überragen; ja es würde selbst bei Außerachtlassung jeglichen 
Dachaufbaues die Höhe der das Tor krönenden Viktoria mit dem Sieges- 
wagen nahezu erreichen. Die Herstellung eines derartigen Bauzustandes an 
einem Brennpunkte des haupt= und weltstädtischen Verkehrs von Berlin 
müßte geradezu ein öffentliches Argernis erregen.“ 
e) Dispense von bestehenden Baupolizeiverord- 
nungen. 
Eine Baupolizeiverordnung muß normalerweise mit der Mög- 
lichkeit rechnen, von ihrer Beobachtung Ausnahmen zuzulassen, „weil 
es unmöglich ist, die allgemeinen Rechtssätze derartig zu geben, daß 
sich jeder konkrete Tatbestand unter sie ohne Härte und materielle 
Ungerechtigkeit subsumieren ließe“ (OVG. 29 S. 362). 
Soweit solche Dispense vorgesehen sind, können sie erteilt 
werden und zwar nach Maßgabe des §145 Zust.-Gesetz v. 1. August 
1883 vom Kreis= bzw. Bezirksausschuß. Gegen den Beschluß des Be- 
zirksausschusses ist die Beschwerde an den Minister der öffentlichen. 
Arbeiten zulässig. Ist ein Dispens nicht vorgesehen, so kann er auch 
nicht von der Aufsichtsbehörde erteilt werden, weil es nicht zum Wesen 
der Aufsicht gehört, die von den Unterbehörden erlassenen, mit Gesetzes- 
kraft ausgerüsteten Polizeiverordnungen lediglich für den Einzelfall 
außer Kraft zu setzen (so OV. 9 S. 338). 
Soweit Dispense zulässig sind, können sie auch für bereits an- 
gefangene oder vollendete Bauten erteilt werden (OV. 29 S. 356 ff.). 
Über den Unterschied zwischen tatsächlicher Zulassung 
polizeiwidriger Bauten und solchen Bauten, bezüglich deren ein 
Dispens von der allgemeinen Baunorm erteilt wurde, führt das 
OVG. 29 S. 369 aus: 
„Ob die Baupolizeibehörde die Pflicht hat, gegen jede auch noch so ge- 
ringfügige Abweichung bestehender Bauten von den Vorschriften der Bau- 
polizeiordnungen einzuschreiten, oder ob sie die Befugnis hat, solche Abwei- 
chungen bestehen zu lassen, ist eine Frage, die keineswegs nur dem Baupolizei- 
recht eigentümlich ist; sie regelt sich vielmehr nach den allgemeinen Normen 
für die Handhabung des Polizeirechts und insbesondere der Polizeiverord- 
nungen überhaupt. Sie kann daher auch nicht mit der Übung des Dispensa- 
tionsrechts in Beziehung gebracht und am wenigsten für die Frage, ob
	        
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