64 Cntstehung der romanischen Nationen. Die deutsche Sprache. §§ 88— S9.
Lange Zeit sträubte sich Lothar, ja er griff zu den verderblichsten Maßregeln.
Er rief gegen seine Brüder zuerst die räuberischen Nordmannen ins Land
und wiegelte gegen den Adel die sächsischen Bauern in einer Verschwörung,
der sogenannten Stellinga, dazu auf, von Ludwig abzufallen und zum
Heidentum und zur alten Freiheit zurückzukehren. Endlich sah er, daß er
nachgeben müsse: 843 im Vertrag zu Verdun versöhnte er sich mit seinen
Brüdern, und man teilte das Frankenreich. Lothar erhielt mit der Kaiser-
würde Italien und einen langen Strich Landes vom Mittelmeer bis
zur Nordsee (zwischen den Flüssen Rhone, Saone, Maas und Schelde im
Westen und dem Rhein und den Alpen im Osten, dazu noch auf dem rechten
Rheinufer Friesland und kleinere Besitzungen auf dem rechten Ufer der Rhone).
Sein Reich ward so wunderlich gestaltet, weil man die beiden alten Haupt-
städte Karls des Großen, Rom und Aachen, ihm mitgeben wollte. Was
westlich davon lag, also vorwaltend das heutige Frankreich, erhielt Karl
der Kahle, was östlich, Ludwig der Deutsche. Doch fielen diesem auf
dem linken Rheinufer diejenigen Landschaften, die zum Erzstift Mainz ge-
hörten, zu, also unter anderem die Städte Mainz, Worms und Speyer.
So zerfiel das Reich Karls des Großen fortan in drei Hauptteile: Italien
mit Burgund, Westfranken (Frankreich) und Ostfranken (Deutschland).
2. Entstehung der romanischen Rationen. Bie deutsche Sprache.
§ 89. Was der Kaiser und die hohe Geistlichkeit erstrebt Hoten die von
Karl dem Großen begründete Einheit des abendländisch-christlichen Reiches.
aufrecht zu erhalten, das war mit dieser Teilung verloren. Aber angebahnt
war, was kommen mußte: nämlich die Trennung des großen Reiches
nach Nationen. Denn schon bildeten sich die romanischen Völker-
schaften und schieden sich von den deutschen. Bei der Gründung des
alten Frankenreiches durch Chlodovech hatten sich die Franken, als herrschender
und grundbesitzender Adel, über das altrömische (welsche) Gallien verbreitet.
Lange behielten diese ihre deutsche Eigentümlichkeit, vor allem ihre Sprache.
Als welsche Einflüsse wieder vorzuherrschen begannen, erneuerte Karl der
Große das Ubergewicht des Germanischen. Seine Nachkommen, die karo-
lingischen Könige, sprachen in Frankreich noch im 10. Jahrhundert an ihrem
Hase deutsch. Allmählich aber war die Landessprache der Welschen (hervor-
gegangen aus dem Latein der gewöhnlichen Leute, dem Vulgärlatein, das
manches Wort und manche Formen aus dem Deutschen aufnahm) mehr und
mehr auch bei den ursprünglich deutschen Franken herrschend geworden.
So bildete sich im alten römischen Gallien aus der Vermischung des
Lateinischen mit einigen deutschen Elementen die französische Sprache.
In den deutschen Gebieten, im alten Austrasien, blieb natürlich die
deutsche Sprache. Man nannte sie die Volkssprache (thiudisc oder diutisc), weil
sie im Gegensatz stand gegen die Sprache der Kirche, das Latein, welches die vor-
nehme und gelehrte war. Als im Jahre 842 Ludwig der Deutsche und Karl
der Kahle zu Straßburg ihren Bund gegen Lothar erneuten (§ 88), verstand
sich beider Rittergefolge bereits nicht mehr; Ludwig leistete deshalb dem Adel
des Westfrankenlandes seinen Eid in französischer Sprache, Karl dem des
Ostfrankenlandes seinen Eid deutsch. Ludwig schwur im damaligen Romanisch:
Pro deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament,
dist di en avant, in duant deus savir et podir me dunat, si salvarai eo
cist meon fradre Karlo et in adiudha et in cadhuna cosa, si cum om per
dreit son fradra salvar dist, etc.